103. Der Bruch in der Vierten Internationale fand während der Krise im Weltstalinismus statt. Nun trat die Bedeutung der Probleme offen zutage, um die es im Kampf gegen die Pablisten gegangen war. Stalins plötzlicher Tod im März 1953 führte zum Ausbruch von Fraktionskämpfen im sowjetischen Politbüro. Durch die Entmachtung und Hinrichtung von Lawrentij Berjia, dem Kopf von Stalins Geheimpolizei, wollte die Bürokratie ihre parasitäre Position der in der sowjetischen Gesellschaft stützen, indem sie die Bedrohung durch Verhaftung und Hinrichtung aufhob, die ständig über dem Parteiapparat und dem Staat schwebte. Aber die Machenschaften der Bürokratie wurden durch eine noch viel gefährlichere Herausforderung bedroht – die wachsende Unzufriedenheit der Arbeiter in der Sowjetunion und Osteuropa.
104. Im Juni 1953 wurde ein Aufstand der ostdeutschen Arbeiterklasse durch sowjetische Panzer unterdrückt. Danach versuchte ein Teil der Bürokratie das Projekt eines „Reformkurses“ durchzusetzen. Auf dem 20. Parteitag der KPdSU am 25. Februar 1956 hielt Sowjetführer Nikita Chruschtschow eine „Geheimrede“, in der er einige von Stalins Verbrechen eingestand. Seine wichtigste Behauptung war aber, dass die Mehrheit der Parteiführung den Prinzipien des Bolschewismus treu geblieben sei. Er wälzte alle Schuld auf einen von Stalin entwickelten „Personenkult“ ab.
105. Während Pablo und seine Anhänger Chruschtschows Rede als den Beginn eines Prozesses der Selbstreform durch die Bürokratie feierten, nutzte die Strömung um Healy die Gelegenheit, um den konterrevolutionären Charakter des Stalinismus zu verdeutlichen. Bei allen Problemen, vor denen die britische Bewegung materiell nach dem Bruch mit Pablo stand, intervenierte sie voller Energie in der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB), veröffentlichte eine Reihe von Broschüren und verbreitete Trotzkis Verratene Revolution. Healy reiste durch das Land und besuchte Mitglieder der Kommunistischen Partei, wobei er Dissidenten drängte, von ihrer Führung die vollständige Offenlegung aller Verbrechen Stalins zu fordern.
106. Am 23. Oktober 1956 erhoben sich ungarische Arbeiter und Jugendliche gegen das stalinistische Regime. Als Demonstranten getötet wurden, begannen die Arbeiter sich selbst zu bewaffnen und bildeten Arbeiterräte. Die Bewegung wurde von russischen Truppen blutig unterdrückt, wobei zwanzigtausend Menschen ihr Leben verloren. Die britische KP verurteilte den Aufstand als „weißen Terror“ und „Faschismus“, was zum Austritt Tausender Arbeiter führte. Als Berichte des Korrespondenten des Daily Worker, Peter Fryer, aus Ungarn zensiert und unterdrückt wurden, zirkulierte der Club sein Material und organisierte eine Reihe von Treffen, auf denen er sprechen konnte. Während eines Sonderkongresses der CPGB im April 1957 veröffentlichte der Club ein tägliches Bulletin. Er griff auf Treffen ein, die vom Socialist Forum, einer Dachorganisation, organisiert wurden, auf denen Healy die Bedeutung der jüngsten Ereignisse geduldig erklärte und auf ein Studium der Geschichte der Sowjetunion und der Schriften Trotzkis drängte.
107. Healys Gruppe war die einzige, die aus der Krise des britischen Stalinismus Kapital schlagen konnte. Der KP blieb nur ein Kern von Anhängern übrig. Zu denen gehörten Leute, die der Enthüllung der von Moskau begangenen Verbrechen gleichgültig gegenüberstanden und deren Mitgliedschaft in der Partei sich auf deren reformistischen Nationalismus und auf opportunistische Manöver in den Gewerkschaften stützte. Die Mehrheit der Abweichler verließ entweder die Politik oder fand ihren Weg in die Labour Party oder den Gewerkschaftsapparat. Aber diejenigen, die von den Idealen Lenins und der Bolschewiki beseelt waren, fanden ihre neue politische Heimat bei den britischen Trotzkisten. Zu den Rekrutierten gehörten führende Intellektuelle; der Wichtigste von ihnen war Cliff Slaughter.
108. Im Januar 1957 wurde die Zeitschrift Labour Review wieder herausgebracht, um die Diskussion über die Krise des Stalinismus und den Weg zur sozialistischen Revolution zu vertiefen. Im Mai desselben Jahres folgte die Veröffentlichung der Wochenzeitung Newsletter. In der Labour Review wurde die Art marxistischer Bewegung beschrieben, die es aufzubauen galt:
„Keine Gruppe verbohrter Doktrinäre ohne Wurzeln oder Perspektiven und unfähig, aus ihren Fehlern zu lernen; kein Klüngel wohlmeinender Universitätsdozenten, die zu jedem Thema etwas sagen können, nur nicht zu dem Klassenkampf, der vor ihrer Nase stattfindet; keine Partei, die Lippenbekenntnisse zum Marxismus ablegt, während sie in Wirklichkeit von der Fraktion kontrolliert wird, die in Moskau gerade das Heft in der Hand hat.
Nein, die marxistische Bewegung, deren Aufbau sich Labour Review verschrieben hat, wird ihre Wurzeln in den Zechen, Betrieben und auf den Baustellen haben; sie wird die Bestrebungen der Arbeiter, für die ‚Intellektueller‘ kein Schimpfwort ist, und der Intellektuellen, deren größter Wunsch der Dienst an der Arbeiterklasse ist, vereinen. Sie wird die Traditionen von revolutionärer Glut, Disziplin, Festigkeit und Internationalismus fortführen, die allein den Namen ‚Bolschewismus‘ verdienen, und sie wird sie unter den neuen Bedingungen mit den besten Traditionen der einheimischen Arbeiterklasse verbinden. Die marxistische Bewegung in Großbritannien wird ein würdiger Erbe sein der Chartisten, der Clydeside-Streiks, der Aktionsräte, der Kommunistischen Partei von 1920–1924, der National Minority Movement, der marxistischen Gruppen der dreißiger Jahre und der Revolutionary Communist Party der vierziger.“[38]
109. Die Labour Review führte eine theoretische Offensive gegen den Stalinismus und die verschiedenen ideologischen Richtungen, die aus seinem Zusammenbruch entstanden und insgesamt als „westlicher Marxismus“ bekannt wurden. Führend unter ihnen war die Publikation New Reasoner, die 1960 zur New Left Review wurde. Vom früheren KP-Mitglied E.P. Thompson gegründet, behaupteten ihre Anhänger, eine „humanistische“ und britische Version des Marxismus zu entwickeln, die Lenins Theorie von der Vorreiterrolle der Partei ablehnte, der man die Schuld für das Aufkommen des Stalinismus gab.
Zitiert in David North, Gerry Healy und sein Platz in der Geschichte der Vierten Internationale, Essen 1992, S. 49-50