Auf zwei Veranstaltungen zum 60. Jahrestag der Ermordung Leo Trotzkis, die am vergangenen Wochenende in Berlin und London stattfanden, zeichnete David North ein lebendiges Bild des großen marxistischen Revolutionärs und Gegners von Stalin. North leitet die Redaktion des World Socialist Web Site und ist Vorsitzender der Socialist Equality Party in den USA. Eingeladen zu den Veranstaltungen hatten das World Socialist Web Site und das Internationale Komitee der Vierten Internationale.
North betonte, dass es unmöglich sei, die großen Tragödien des vergangenen Jahrhunderts zu verstehen, ohne die Schriften Trotzkis zu studieren. "Es scheint, als unternähme in den Schriften von Leo Trotzki die Geschichte selbst den Versuch, sich nach besten Kräften darzustellen und deutlich zu machen, was sie will und wohin sie geht," sagte er.
Im Gegensatz zu vielen anderen großen Marxisten sei es trotz vieler Versuche nie gelungen, Trotzkis Ideen und Einschätzungen an die herrschenden Bedingungen anzupassen und ihn zu vereinnahmen. Selbst Marx sei von der deutschen Sozialdemokratie neu interpretiert und in einen Befürworter des Reformismus verwandelt worden. Mit Trotzki sei dies hingegen nicht gelungen. Dazu seien seine Analysen und Kommentare zu konkret und seine revolutionären Perspektiven zu deutlich.
Während der Glasnost-Periode sei die Mehrheit der Opfer Stalins rehabilitiert worden, nicht aber Trotzki. Das stalinistische Regime sei zusammengebrochen, ohne dass Trotzki rehabilitiert wurde. Er sei die Verkörperung einer politischen Perspektive - der sozialistischen Weltrevolution - der man selbst Jahrzehnte nach seinem Tod keine Legitimation habe geben dürfen. Hätte man dies getan, wäre eine Alternative zur bürokratischen Herrschaft und ihrem Kurs der kapitalistischen Restauration sichtbar geworden.
In der Berliner Humboldt-Universität sprach auch Wladimir Wolkow, der Leiter der russischen Redaktion des WSWS. Wolkow schilderte den kolossalen wirtschaftlichen und sozialen Niedergang, der gegenwärtig auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion stattfindet, und warf die Frage auf: "Bedeutet das, dass auch die Revolution von 1917 sinnlos war, dass sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt war?"
Seine Antwort: "Überhaupt nicht! Die internationalen Perspektiven, aus denen die Revolution von 1917 hervorging, hatten nichts mit der Politik nationaler Autarkie gemein, die in der Sowjetunion etwa seit Mitte der 20er Jahre sanktioniert wurde. Mehr noch, die Möglichkeit der Entartung der Revolution in nationalistische Richtung wurde von Trotzki lange vorhergesehen, bevor sie zur Tatsache wurde."
Im weiteren erläuterte er, dass es nur zwei Möglichkeiten gab, die Sowjetunion in die Weltwirtschaft zu integrieren. Entweder durch die systematische und geduldige Zusammenarbeit mit den Arbeitern in den kapitalistischen Industriestaaten mit dem Ziel, weltweit eine Wirtschaft aufzubauen, die an den Bedürfnissen der Menschen orientiert ist - das heißt die sozialistische Perspektive, für die Trotzki eintrat -, oder die Beseitigung der Eigentumsverhältnisse, die durch die russische Revolution geschaffen worden waren, was unvermeidlich zu extremer Ausbeutung und Diktatur führen musste. Mit der Unterdrückung Trotzkis und der Linken Opposition, so Wolkow, sei das Schicksal der Sowjetunion bereits weitgehend entschieden gewesen.
"Was unterscheidet Trotzkis Sozialismus von den anderen Sozialismen‘ des 20. Jahrhunderts? Genauer ausgedrückt: Was unterscheidet den unverfälschten Marxismus - den Trotzki vertreten hat - von den zahlreichen reformistischen, stalinistischen oder nationalistischen Strömungen, die sich zeitweilig als sozialistisch‘ oder kommunistisch‘ bezeichnet haben oder noch bezeichnen," fragte Peter Schwarz, der Sekretär des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, in seiner Rede. "Man kann auf diese Frage natürlich eine sehr lange, komplexe und umfangreiche Antwort geben. Aber der Kernpunkt ist folgender: Für Trotzki war die Verwirklichung einer sozialistischen Perspektive - die sozialistische Revolution und der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft - untrennbar verbunden mit der Hebung des kulturellen Niveaus der Massen, mit der Erweckung ihres kreativen Potentials."
Trotzkis Sozialismus habe auf einer umfassenden Vision des menschlichen Fortschritts basiert, erläuterte Schwarz.
Julie Hyland, Redaktionsmitglied des WSWS, leitete die Versammlung im International Students House in London. Sie gab einen kurzen biografischen Abriss von Trotzkis Leben. Sein größter Beitrag zum Marxismus, erklärte sie, sei sein Kampf gegen die stalinistische Bürokratie gewesen, der schließlich zur Gründung der Vierten Internationale geführt habe. "Er hielt scheinbar unerträglichen moralischen, emotionalen und physischen Schlägen stand, um, wie James P. Cannon es formulierte, sein Testament an die Menschheit zu vollenden, einen literarischen Schatz, den Motten und Ruß nicht zerstören können‘."
"Trotzkis Waffen gegen die Bürokratie," fuhr Hyland fort, "waren seine unermüdlichen Anstrengungen, die zentralen politischen und sozialen Tagesfragen zu klären. Zusammengenommen würden Trotzkis Schriften etwa 150 Bände umfassen, die fast jedes Thema behandeln. Darunter befinden sich Werke wie Die permanente Revolution, die dreibändige Geschichte der russischen Revolution, Stalins Schule der Fälschungen und Probleme der chinesischen Revolution, zahlreiche Artikel über den Faschismus und die Lage in Deutschland, sein biografisches Werk Der junge Lenin, Arbeiten zu gesellschaftlichen Problemen und Fragen der Kunst wie Fragen des Alltagslebens, Frau und Familie und Literatur und Revolution sowie seine klassische Analyse der Entartung der Sowjetunion Verratene Revolution.
In den Ideen, die in diesem breiten literarischen Werk dargestellt sind und die bis heute nachhallen, bestehe die zeitgenossische Bedeutung Trotzkis, schloss Hyland.
Chris Marsden, der nationale Sekretär der Socialist Equality Party in Großbritannien, erläuterte in seinem Beitrag den Zusammenhang zwischen den politischen Auffassungen Trotzkis und den Grundlagen des World Socialist Web Site.
Dessen Aufbau beruhe auf "dem wissenschaftlich fundierten Glauben in die weitere Gültigkeit einer marxistischen Perspektive, auf dem Verständnis, dass ein erfolgreicher Kampf für den Sozialismus vor allem eine Erneuerung der reichhaltigen sozialistischen Kultur erfordert, die in den Jahrzehnten vor der russischen Revolution von 1917 entwickelt wurde."
Weiter sagte Marsden: "Trotzki und die Generation von Revolutionären, deren herausragendster Vertreter er war, verstanden, dass die Revolution zwar objektive Grundlagen hat, aber nur erfolgreich sein kann, wenn die Arbeiterklasse bewusst in die Politik eingreift. Wenn nicht eine beträchtliche Zahl von Arbeitern als Marxisten ausgebildet und von seiner sozialistischen politischen Vision begeistert sind, kann die Arbeiterklasse weder die bestehende Ordnung umstürzen noch eine neue aufbauen."
Chris Talbot, in der Redaktion des World Socialist Web Site verantwortlich für Afrika, bemerkte, dass die gegenwärtigen Verhältnisse in Afrika wohl die schwerwiegendste Anklage gegen den modernen Kapitalismus darstellten. Das Gesamteinkommen aller 48 Länder südlich der Sahara entspreche zusammengenommen ungefähr demjenigen Belgiens. Mehr Leute stürben an Infektionskrankheiten als je zuvor seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Talbot sagte, es sei nicht möglich, die gegenwärtigen Geschehnisse in Afrika zu verstehen, ohne Trotzkis permanente Revolution zu studieren.
"Welche Erfahrungen haben die afrikanischen Arbeiter und Bauern mit 40 Jahren Pan-Afrikanismus gemacht, oder mit Regimen, die anfangs für den Pan-Afrikanismus eintraten? Die Erfahrung hat auf tragische Weise Trotzkis Analyse bestätigt, der betonte, dass der bürgerliche Nationalismus in imperialistisch unterdrückten Ländern in eine Sackgasse führt.
Sieht man einmal von der Anlehnung an die sowjetische stalinistische Bürokratie in der Periode des Kalten Krieges ab, die den pan-afrikanischen Regimen etwas Raum für Manöver und beschränkte Wohlfahrtsmaßnahmen gab, war nicht ein afrikanischer Führer in der Lage, den Zangengriff des Imperialismus zu lockern oder sich ernsthaft den Problemen von Armut und Unterentwicklung zu widmen. Im vergangenen Vierteljahrhundert hat sich jeder einzelne dieser nationalistischen Führer und ihrer politischen Abkömmlinge der kapitalistischen Marktwirtschaft zugewandt und die Vorherrschaft des Internationalen Währungsfonds und der transnationalen Konzerne über Afrika begrüßt. Sie haben sich mit der sozialen Katastrophe abgefunden, die den Kontinent erfasst hat."
Am Ende beider Veranstaltungen wurden vielfältige Fragen gestellt und beantwortet. Sammlungen ergaben über 2000 DM für die Entwicklung des World Socialist Web Site und die Besucher kauften sozialistische Literatur im Wert von mehreren hundert Mark.
Das World Socialist Web Site wird in Kürze die Beiträge der beiden Veranstaltungen im Wortlaut veröffentlichen.