Der Holocaust und die Wehrmacht

"Ganz gewöhnliche Deutsche" und Historiker

Aus der Neuen Arbeiterpresse Nr. 835

Bericht über eine Podiumsdiskussion zur Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg

Im Rahmen der Wanderausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" fand am 17. April 1996 im Essener Kunstschacht Katernberg eine Podiumsdiskussion von Historikern und Publizisten statt, die für ihre Forschungen zum Dritten Reich und zum Zweiten Weltkrieg bekannt sind. Der Diskussionsleiter Michael Zimmermann vom Ruhrlandmuseum Essen stellte gleich zur Einleitung fest, dass die wesentliche Frage, die heute immer noch alle bewege, wohl folgende sei: wie ist das grausame Verhalten der Soldaten in der Armee, die Teilnahme "ganz gewöhnlicher Deutscher" am Holocaust der Nazis zu erklären? Doch von den auf dem Podium versammelten Wissenschaftlern konnte keiner darauf eine Antwort geben, jedenfalls keine im wissenschaftlichen Sinne.

Hannes Heer, Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung und maßgeblicher Leiter und Autor der Ausstellung sowie des gleichnamigen Buches erging sich zunächst in einem Streit mit dem bekannten Bochumer Professor Hans Mommsen über die Frage, ob die Forschungsarbeiten des Hamburger Instituts und die darauf beruhende Ausstellung etwas neues ans Tageslicht gefördert hätten oder nicht. Er betonte, dass sich die Beteiligung der Wehrmacht an der massenhaften Ermordung von Juden, wie sie durch die Ausstellung nachgewiesen und dokumentiert werde, aus dem Programm des Krieges als rassistischer Vernichtungskrieg ergeben hätte.

Professor Hans Mommsen von der Ruhruniversität Bochum hingegen bezweifelt, dass dem Krieg ein solches Programm zugrundegelegen habe. Die Konferenzen der Obersten Heeresleitung und Befehle von Generälen, auf die in diesem Zusammenhang in der Ausstellung Bezug genommen wird, seien viel zu früh datiert und kein Beleg dafür. Die Verbrechen der Wehrmacht freilich, insbesondere die ihrer führenden Generäle stünden auch für ihn außer Zweifel; doch hätten sie sich wohl insbesondere nach dem Ausbleiben des Zusammenbruchs der Sowjetunion aus einer Verschärfung aller Konflikte und in der Ausweglosigkeit der Kriegslage aus einer Art "Gewöhnung an die Banalität des Bösen", aus einer "Eskalation der moralischen Indifferenz" ergeben. Letztlich sei es aber unfassbar und unerklärlich, welche Grausamkeiten von der Wehrmacht insbesondere auf ihrem Rückzug verübt worden seien, und zwar von ganz oben bis hinunter zu den unteren Ebenen.

Bernd Bonwetsch, Professor für Russische und Osteuropäische Geschichte an der Ruhruniversität Bochum, betonte, dass bei allen Debatten, die von gewissen Autoren über einen angeblichen "Angriffskrieg Stalins" ausgelöst worden seien, am Charakter des Kriegs als Vernichtungskrieg gegenüber der Sowjetunion kein Zweifel sein könne. Erstaunlicherweise sei diese Kriegsplanung von der sowjetischen Führung unter Stalin selbst aber nie zum Thema gemacht worden. Auch der Judenvernichtung habe die herrschende Bürokratie nichts entgegengesetzt. "Wer anschließend in der Sowjetunion versucht hat, dieses Verbrechen aufzudecken so wie die Autoren des berühmten,Schwarzbuchs über die Judenvernichtung in der Sowjetunion', wurde selbst unterdrückt, verfolgt oder umgebracht."

Überhaupt hätten Stalin und spätere Machthaber der Sowjetunion die fürchterlichen Menschenopfer des Kriegs unter der sowjetischen Bevölkerung immer heruntergespielt, weniger hingegen die Materialverluste, die Schäden für die Wirtschaft usw. "Dies hat sich", so Bonwetsch, "auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im heutigen Russland nicht geändert." Das Verdienst der Ausstellung und des Buches sei es zweifellos, die breite Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust, an diesem Vernichtungskrieg gegen Millionen von Menschen, akribisch dokumentiert zu haben. Doch eine Erklärung dafür, weshalb ganz normale Menschen bei so etwas mitmachen konnten, die könne er auch nicht bieten. "Es ist einfach unfassbar, was da geschehen ist, angefangen von dem angeblichen,Kampf gegen die Partisanen' bereits beim Einmarsch in der Sowjetunion bis hin zur Politik der verbrannten Erde auf dem Rückzug."

Als die Diskussion auf die Zuhörer der Veranstaltung ausgeweitet wurde, meldete sich gleich ein Nervenarzt, der berichtete, dass heute immer mehr Patienten in seine Sprechstunde kämen, die jetzt von ihren Taten, die sie als Soldaten damals begangen hatten, eingeholt und von Alpträumen und Schuldgefühlen geplagt würden. Er beschrieb dann ausführlich die psychologischen Vorgänge, die damals bei den Soldaten, die an Massenhinrichtungen und der willkürlichen Ermordung von Frauen und Kindern beteiligt waren, abgelaufen seien und zu einer Beseitigung aller moralischen Hemmschwellen geführt haben müssen. Letztlich aber, so der Diskussionsteilnehmer, seien diese psychologischen Verhaltensweisen und Vorgänge in der einzelnen Persönlichkeit angelegt und erlaubten keine pauschalen Urteile.

Die auf dem Podium versammelten Akademiker stimmten diesen Ausführungen lebhaft zu, deckten sie sich doch mit ihrer Auffassung, dass das Geschehene "letztlich nicht erklärbar" sei. Sie betonten zwar, dass sie sowohl die Auffassungen Ernst Noltes ablehnten, der den Holocaust und den Krieg als Verteidigungsreflex des Westens gegenüber der Gefahr des Kommunismus darstellte, als auch das jüngst veröffentlichte Buch des amerikanischen Soziologen Daniel Jonah Goldhagen für das Werk eines Scharlatans, nicht eines Historikers hielten.

Goldhagen hat in seinem in den USA veröffentlichten, aber in Deutschland bereits heftig diskutierten Buch "Hitler's Willing Executioners" unter Berufung auf die Arbeiten des Historikers Christopher Browning über den Einsatz des deutschen Polizeibatallions 101 in Polen und auf andere Zeugenaussagen die These aufgestellt, der Völkermord an den Juden sei einem spezifisch deutschen Phänomen, einem speziell in der deutschen Gesellschaft bis zum Vernichtungswillen gesteigerten Antisemitismus entsprungen, der praktisch die gesamte deutsche Bevölkerung wie eine Infektionskrankheit schon seit dem 19. Jahrhundert befallen habe. Deshalb hätten so viele so bereitwillig mitgemacht oder zugeschaut. Weder Mommsen, noch Bonwetsch oder Heer boten jedoch eine plausible wissenschaftliche Erklärung als Alternative an und ließen somit diese Thesen unwiderlegt im Raum stehen.

Der Autor dieses Artikels griff daraufhin in die Diskussion ein, um den Standpunkt der Marxisten zu dieser Frage zu vertreten:

"Wirft nicht die detaillierte Beschreibung der Vorgänge in der Psyche der am Holocaust beteiligten Individuen die Frage nur umso schärfer auf, die bereits zu Beginn der Veranstaltung als das zentrale Problem formuliert worden ist: wie konnte es geschehen, dass Abertausende, ja Zigtausende von Menschen, die zehn Jahre zuvor noch als Bäcker oder Lehrer, Arbeiter oder Universitätsdozenten ein unauffälliges, ‚ganz normales Leben' führten, plötzlich dieses bestialische Morden mit durchführten oder ihm tatenlos zuschauten? Dass Widerstand gegen die Nazis und ihre Vernichtungsmaschinerie zwar vorhanden - immerhin sind auf der anderen Seite Zigtausende deshalb hingerichtet oder in Konzentrationslager verschleppt worden -, aber dennoch auf die heroische Tat Einzelner oder relativ kleiner Gruppen beschränkt und am Ende wirkungslos geblieben war?

Eine solche gesellschaftliche Entwicklung, die große Massen als Täter und noch größere Massen als Opfer erfasste, kann man historisch nur erklären, wenn man die gesellschaftlichen Ursachen und Grundlagen der faschistischen Nazi-Diktatur und des Krieges aufdeckt. Der Streit über die Datierung von irgendwelchen Zusammenkünften und Befehlen von Generälen im bereits ausgebrochenen Krieg trägt dazu kaum etwas bei. Unerlässlich für die Klärung dieser Frage ist es aber, die sozialen und politischen Veränderungen zu untersuchen, welche die gesamte Gesellschaft in Deutschland und ganz Europa in den dem Krieg vorausgegangenen Jahren und Jahrzehnten durchgemacht hat. Bisher ist in der Diskussion leider niemand darauf eingegangen.

Weder der Krieg noch die Konzentrationslager, weder die Zwangsarbeit von Millionen Kriegsgefangenen noch der Völkermord an den Juden fielen vom Himmel. Wem in dieser Gesellschaft sollten sie nützen? Wer hat sie vorbereitet? Diese Frage lässt sich heute klar und gut dokumentiert beantworten. Krieg und Holocaust hatten ein Programm, dass nicht erst in irgendwelchen Generalskonferenzen besprochen werden musste. Hitler hatte es bereits im Januar 1932 in seiner Rede vor dem Düsseldorfer Industrieclub dargelegt: die Vernichtung der Arbeiterbewegung, ihrer Organisationen und Rechte durch eine Diktatur nach innen und die Vernichtung der Sowjetunion,,des jüdischen Bolschewismus in der Welt', wie Hitler dies nannte, durch einen Krieg nach außen. Für dieses Programm erhielt Hitler, wie wohl keiner der Historiker auf dem Podium bestreiten wird, die Unterstützung der wichtigsten deutschen Industriellen, Bankiers und Generäle.

Der Rassenhass der Nazis war nur ein Bestandteil, ein Hebel zur Durchsetzung dieses Programms im Interesse des deutschen Kapitals. Er entwickelte zwar seine eigene Logik bis hin zur Vernichtungsmaschinerie der Konzentrationslager und Massenerschießungen, doch war dies immer, wie die Ausstellung und das Buch von Hannes Heer zeigen, eng mit den Operationen der Wehrmacht auf ihrem Eroberungskrieg im Osten verbunden.

Wenn dies ein Vernichtungskrieg im Interesse des deutschen Kapitals war, ein Krieg, um deutschen Unternehmern ‚Lebensraum im Osten', d.h. Absatzmärkte, billige Rohstoffquellen und billiges Ausbeutungsmaterial zu verschaffen, welche Kraft in der Gesellschaft hätte sich diesem Krieg entgegenstellen und ihn verhindern können?

Jeder der Historiker auf dem Podium wird wohl bestätigen, dass im vorangegangenen Ersten Weltkrieg die einzigen, die in Europa konsequent gegen den Krieg auftraten und schließlich sein Ende erreichten, die revolutionären Sozialisten waren, in Russland organisiert in der bolschewistischen Partei Lenins, in Deutschland im Spartakusbund von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Es ist ein historisches Faktum, dass nicht der Sturz des Zaren, sondern erst die von den Bolschewisten geführte proletarische Revolution und Errichtung einer Arbeiterregierung im Oktober 1917 das Ende des Gemetzels im Weltkrieg einleitete. Die Oktoberrevolution gab schließlich auch den Anstoß für die Novemberrevolution 1918 in Deutschland, den Zusammenbruch des Kaiserreichs und das Ende des Kriegs im Westen. Millionen von Arbeiter hatten sich in den darauffolgenden Monaten von den rechten sozialdemokratischen Führern abgewandt und sich den Perspektiven Lenins, Trotzkis und Rosa Luxemburgs angeschlossen: Krieg und Unterdrückung können aus dieser Welt gebannt werden, aber nur wenn das kapitalistische Profitsystem gestürzt und weltweit eine neue, sozialistische Gesellschaft errichtet wird.

Was aber war in Deutschland, was war in Europa geschehen, dass zehn Jahre später Hitler von seinen Gönnern in der deutschen Bourgeoisie und in der deutschen Armee an die Macht gebracht werden konnte? Dass er, ohne auf größeren Widerstand zu stoßen, schließlich den lange geplanten Krieg in Gang setzen konnte? Weshalb konnte das Gemetzel des Weltkriegs und des Holocaust sich entfalten, ohne dass es zu Arbeiteraufständen, zu neuen proletarischen Revolutionen kam? Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt im Aufstieg der stalinistischen Bürokratie in der Sowjetunion im Laufe der zwanziger Jahre. Er hat zur politischen Zerstörung der kommunistischen Parteien in ganz Europa geführt."

Wolfgang Weber erinnerte daran, dass das nationalistische Programm Stalins vom Aufbau des Sozialismus in einem Land auch außerhalb der Sowjetunion zur Anpassung der Kommunistischen Parteien in ihrer politischen Linie an kleinbürgerliche Nationalisten und sogar Faschisten führte, wie zum Beispiel in Deutschland mit der Propagierung der "nationalen Revolution" oder auf dem Balkan mit den Verbrüderungsangeboten an die serbischen und kroatischen Nationalisten.

"Der Stalinismus hat zur politischen Desorientierung von Millionen von Arbeitern geführt," fuhr Wolfgang Weber fort. "Seinen Höhepunkt fand dies in den Moskauer Prozessen, in deren Verlauf die stalinistische Bürokratie nicht nur in der Sowjetunion, sondern in ganz Europa Millionen kommunistischer Arbeiter und sozialistisch gesinnter Intellektueller umbrachte. Auf diese Weise wurde die internationale Arbeiterklasse jeder aktiven Widerstandskraft gegenüber der Seuche von Nationalismus und Rassismus beraubt: einer revolutionären sozialistischen Perspektive, für die breitere Schichten von Arbeitern sich organisieren und aktiv eintreten. Nur dank der fast vollständigen physischen und politischen Ausrottung dieser Perspektiven durch die Stalinisten konnte der Faschismus in Deutschland erreichen, dass Arbeiter sich nur noch als atomisierte, der Staatsmacht ausgelieferte Individuen und nicht mehr als Teil einer internationalen Klasse verstanden. Der Stalinismus trägt somit die Hauptverantwortung dafür, dass ein klassenmäßig organisierter, erfolgreicher Widerstand gegen den Hitler-Faschismus und seine Vernichtungsmaschinerie ausblieb und dort, wo ihn klassenbewusste Arbeiter gewagt hatten, in seinen Anfängen erstickt worden ist.

Die Oktoberrevolution von 1917 und ihr anschließender Niedergang, die Zerstörung der kommunistischen Bewegung und schließlich auch der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie - dies sind die Schlüsselfragen der Geschichte in diesem Jahrhundert und als solche nicht nur von historischem Interesse, sondern, wie die Ereignisse auf dem Balkan und das erneute Aufflammen von Rassismus und Nationalismus in der ganzen Welt zeigen, von brennender Aktualität."

Die Historiker auf dem Podium gaben zwar während dieses Diskussionsbeitrags durch Kopfnicken zu erkennen, dass sie, wenn darauf angesprochen, die angeführten historischen Fakten tatsächlich nur bestätigen können. Sie zogen es jedoch in der anschließend noch kurz fortgeführten Diskussion vor, auf die Frage des Stalinismus und die Klassengrundlage des Faschismus und des Holocausts mit keinem Wort einzugehen.

Einige Zuhörer der Diskussion äußerten im Anschluss daran jedoch erfreut ihre Zustimmung und Erleichterung darüber, dass diese Fragen der Geschichte der Arbeiterbewegung einmal ausgesprochen und erklärt worden sind.

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