In den vergangenen Wochen sind zahlreiche neue Details ans Licht gekommen, die auf eine enge Verbindung staatlicher Stellen mit dem rechtsextremen Terrornetzwerk „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) hindeuten. Demnach standen Ämter und Sicherheitsbehörden unmittelbar mit dem direkten Umfeld der NSU-Terroristen in Kontakt. Zudem zeigt sich, wie sie bis heute versuchen, eine umfassende Aufklärung der Hintergründe zu verhindern und zu sabotieren.
Zahlreiche neue Anschuldigungen beziehen sich auf die Zeit unmittelbar vor dem Untertauchen der drei mutmaßlichen Terroristen Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos im Januar 1998. Den drei Mitgliedern des NSU werden in der Folge insgesamt zehn Morde zur Last gelegt.
Vor dem Abtauchen der drei Terroristen hatten mehrere staatliche Stellen zahlreiche Möglichkeiten, insbesondere Uwe Böhnhardt festzunehmen. Dass dies nicht geschah, verdeutlicht, dass es von dieser Seite offenbar kein Interesse daran gab, den mit Haftbefehl gesuchten Neonazi dingfest zu machen.
Böhnhardt war nach Angaben der Frankfurter Rundschau am 16. Oktober 1997 unter anderem wegen Volksverhetzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Rechtskräftig wurde das Urteil erst am 10. Dezember des Jahres. Von da an vergingen sieben Wochen, in denen der damals 20-jährige Böhnhardt weder zum Strafantritt geladen noch inhaftiert worden sei, wie der langjährige Berliner Jugendrichter Helmut Frenzel in der FR kritisiert. Am 26. Januar 1998 tauchte er schließlich unter den Augen der Polizei ab, während diese die Bombenwerkstatt des Trios aushob.
Richter Frenzel kritisiert jedoch nicht bloß den fahrlässigen Umgang der Thüringer Justiz mit dem verurteilten Böhnhardt, den man ihm zufolge bereits „vor Weihnachten 1997“ hätte festnehmen können. Seiner Ansicht nach habe die Polizei die Festnahme bewusst hinausgezögert. Die Entstehung des NSU hätte also aufs Einfachste verhindert werden können.
Doch es gibt weitere Anhaltspunkte, die darauf hindeuten, dass Uwe Böhnhardt bewusst gedeckt und laufen gelassen wurde. Im Fokus dieses Verdachts steht das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (LfV).
Wie die Frankfurter Rundschau in einem weiteren Artikel berichtete, wurde Uwe Böhnhardt bereits im Oktober 1997 vom Thüringer Landeskriminalamt (LKA) observiert, nachdem Unbekannte in Jena mehrere Bombenattrappen gelegt hatten. Doch bereits nach drei Tagen habe das LKA die Observation stoppen müssen, wie sich mehrere Polizeibeamte vor dem Thüringer Untersuchungsausschuss erinnerten.
Anstelle des LKA sei dann der Verfassungsschutz mit der Observation beauftragt worden – eine „absolute Ausnahme“, wie die Beamten angaben. Über die Gründe sei ihnen bis heute nichts bekannt. Zugleich gaben sie an, bereits während ihrer Observation den Eindruck gehabt zu haben, dass sie nicht die Einzigen gewesen seien, die Böhnhardt überwachten. „Wir bekamen mit, dass da schon jemand anderes dran war an Böhnhardt. Wir wissen aber bis heute nicht, wer das war“, wird einer der Beamten zitiert.
Beachtlich ist zudem, dass das LfV nur zwei Tage benötigte, um die Bombenwerkstatt ausfindig zu machen – und sich dann wiederum sechs Wochen Zeit ließ, um das LKA davon in Kenntnis zu setzen. Nach einer früheren Aussage des einstigen thüringischen LfV-Präsidenten Helmut Roewer hatte das Amt die Information darüber, dass in der rechtsextremen Szene mit Sprengstoff hantiert werde, „von einer menschlichen Quelle“ erhalten. Wahrscheinlich gab es also einen weiteren Informanten, über dessen Existenz und Identität bisher öffentlich nichts bekannt ist.
Wie das Magazin Die Story im Ersten bemerkt, lagen bei der Durchsuchung der Bombenwerkstatt am 26. Januar 1998 keine Haftbefehle gegen das spätere Trio vor. Auch Böhnhardts Auto, mit dem er ungehindert fliehen konnte, sollte nicht durchsucht werden. Auffällig ist außerdem, dass die bis dahin mit dem Fall befassten Polizeibeamten an diesem Tag nicht an der Aktion beteiligt waren.
Der beteiligte Kriminalhauptmeister Mario Melzer, der seinerzeit auf eine konsequente Verfolgung des Trios gedrängt hatte, wurde anschließend auf einen anderen Posten versetzt. Nachdem er bereits 2012 vor den Untersuchungsausschüssen in Erfurt und Berlin ausgesagt hatte, sind ihm inzwischen weitere öffentliche Auskünfte von der jetzigen Leitung des Thüringer LKA untersagt worden. Offenbar hat die Behörde noch heute Entscheidendes zu verbergen.
Das ARD-Magazin vermutet, dass das LfV mit dem Untertauchen des Trios seinen V-Mann Tino Brandt schützen wollte. Ob dies der einzige Grund war, das Trio laufen zu lassen, ist derzeitig noch unklar. Zumindest geht aus dem Bericht des Magazins hervor, dass das Bundeskriminalamt (BKA) Kenntnis über die staatliche Praxis hatte, V-Leute selbst bei Vorlage schwerer Straftaten zu decken.
Die offenkundige Sabotage der Ermittlungen, die die verantwortlichen Behörden in Thüringen bis heute betreiben, ist kein Einzelfall. Auch andernorts torpedieren staatliche Institutionen eine Aufklärung der jahrelangen Mordserie und deren Verbindungen zum Staatsapparat.
So musste das Brandenburger LfV vor wenigen Wochen zugeben, entscheidende Informationen über das Umfeld des NSU-Trios nicht ordnungsgemäß an andere Landesämter weitergegeben zu haben. Der Brandenburger V-Mann „Piato“ soll bereits 1998 Angaben darüber gemacht haben, dass drei untergetauchte Neonazis planten, sich Waffen zu besorgen, Überfälle zu begehen und an Pässe zu gelangen, um dann ins Ausland zu flüchten. Nach einem Bericht des Fernsehsenders n-tv haben die Behörden in Thüringen und Sachsen von diesen Informationen nichts erfahren.
Wie kürzlich bekannt wurde, hat das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) offenbar einen früheren V-Mann bis 2012 gedeckt, um seine Strafverfolgung zu verhindern. „Primus“ alias Ralf M. aus Zwickau steht unter Verdacht, im Sommer 2001 zwei Fahrzeuge gemietet zu haben, mit denen die Mitglieder des NSU zu zwei Morden in Süddeutschland gefahren sein sollen.
Bisher war ungeklärt, von wem das Trio in den beiden Fällen ein Auto bekommen hatte. Zwar streitet „Primus“ seine Unterstützung für die Taten ab. Doch der frühere Verfassungsschützer Michael Faber hält das Dementi schon wegen der zeitlichen Überschneidung der Vermietung und wegen der guten Kontakte von „Primus“ in die rechtsextreme Szene für unglaubwürdig.
Wie der Sender n-tv in einem weiteren Bericht angibt, stand „Primus“ in engem Kontakt mit dem möglichen Waffenlieferanten Jan Werner sowie mit Andrè E., der im NSU-Prozess ebenfalls auf der Anklagebank sitzt. Der Zwickauer V-Mann soll vom BfV finanziell massiv unterstützt worden sein. Kann man Faber glauben, so war „Primus“ zunächst nur Gelegenheitsarbeiter: „Dann hat er in kürzester Zeit ein Geschäft aufgemacht, am Schluss war er Fuhrunternehmer. Der muss gut verdient haben beim Bund.“
Sollte „Primus“ tatsächlich das Trio unterstützt haben, liegt auch auf der Hand, weshalb das BfV erst 2012 die Tätigkeit seines V-Mannes publik machte: die „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ verjährt spätestens nach zehn Jahren. Die Angabe, er sei 2002 aus dem Dienst ausgeschieden, könnte als Begründung dafür gedient haben, seine Akte im Jahr 2010 „fristgerecht“ zu vernichten.
Auch in Nordrhein-Westfalen sind staatliche Stellen möglicherweise tiefer in die Machenschaften des Rechtsterrorismus verstrickt, als bisher bekannt. Wie ein Kölner Geschäftsmann in einer eidesstattlichen Erklärung mitteilte, seien kurz nach dem Bombenanschlag auf die Kölner Keupstraße zwei Zivilbeamte der Polizei auffällig früh am Tatort gewesen. Bei dem Anschlag mit einer Nagelbombe, der dem NSU zugerechnet wird, wurden im Juni 2004 22 Menschen teils schwer verletzt, viele von ihnen Migranten.
Das nordrhein-westfälische Innenministerium hat die Anwesenheit der beiden Polizisten inzwischen zugegeben – mehr als acht Jahre nach dem Anschlag. Sogar der Untersuchungsausschuss des Bundestages hält die Begebenheit nicht für Zufall. CDU-Obmann Clemens Binninger erklärte, die Keupstraße habe gar nicht zum Zuständigkeitsbereich der beiden Hundeführer gehört. Zudem sei einer der beiden Polizeihauptkommissar gewesen, ein Dienstgrad, mit dem man nicht auf Streife gehe.
Schon fünf bis zehn Minuten vor den ersten Einsatzfahrzeugen von Polizei und Feuerwehr seien die beiden am Tatort gewesen, wo sie den Tätern „ja fast über die Füße gestolpert sein“ müssten. Am kommenden Donnerstag soll einer der beiden Beamten im Untersuchungsausschuss vernommen werden.