Das Tagebuch der Lena Muchina: ein wichtiges Dokument zur Blockade von Leningrad

Lena Muchina: „Lenas Tagebuch“, Übersetzt von Lena Gorelik und Gero Fedtke, München 2013, 375 S.

Vor einem Jahr erschien im Graf-Verlag das Tagebuch der Lena Muchina in deutscher Sprache. Lena Muchina hatte als Schülerin das erste Jahr der Blockade von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht miterlebt. Ihr Tagebuch wurde erst vor wenigen Jahren von russischen Historikern im Archiv entdeckt und ist 2011 erstmals auf Russisch erschienen.

Das Tagebuch ist ein wichtiges historisches Dokument über eines der größten, aber oft vergessenen Kriegsverbrechen des deutschen Imperialismus: Während der Blockade von Leningrad durch die Nazis zwischen dem Spätsommer 1941 und Anfang 1944 kamen etwa 1,1 Millionen Menschen ums Leben. Es war eine der längsten Belagerungen einer Stadt in der Weltgeschichte.

Über eine Millionen Soldaten der Roten Armee starben bei der Verteidigung Leningrads; weitere 2,4 Millionen wurden verwundet. Auf deutscher Seite starben 130.000 Soldaten, 480.000 wurden verwundet und 220.000 verschwanden oder wurden gefangen genommen.

Lena Muchina (Foto Ullstein Buchverlage)

Lenas Tagebuch setzt im Mai 1941 ein und bricht Ende Mai 1942 ab, als sie aus Leningrad evakuiert wird. Zu Beginn des Tagebuchs lernt man ein introvertiertes, 16-jähriges Mädchen kennen: Lena lebt mit ihrer Tante Lena und Aka in einer Kommunalwohnung in Leningrad. Die Familie ist arm und lebt hauptsächlich von geliehenem Geld. In der Schule hat Lena wenig Freunde und ist unglücklich in Wowa, einen Jungen aus ihrer Klasse verliebt. Trotz ihrer Bemühungen eine „gute sowjetische Schülerin“ zu sein, sind ihre Noten nicht besonders gut.

Der Ton des Tagebuchs ändert sich schlagartig am 22. Juni 1941, als die Nazis die Sowjetunion überfallen. Wie Millionen andere Sowjetbürger hört sie die Rede von Außenminister Molotow im Radio – Stalin, geschockt über den Angriff der Nazis, an den er trotz zahlreicher Warnungen nicht glauben wollte, sollte sich erst zwei Wochen nach Kriegsbeginn äußern.

Lena vermerkt am 23. Juni, dass die Bevölkerung nicht auf einen Krieg vorbereitet sei: „Um die Wahrheit zu sagen, weder wir noch unsere Wohnung sind für einen Angriff gerüstet: Wir wissen nicht, wo die Sanitätsstelle ist, wo die Dekontaminationsstelle, wo die Luftschutzbunker, wo der Stab der Luftabwehr, was wir bei Sprengbomben zu tun haben, was bei Brandbomben.“ (S. 53)

Nur wenige Wochen vor Kriegsbeginn hatte Lena in ihrem Tagebuch ihre Gedanken über sowjetische Militärübungen notiert: „Tag für Tag trainieren so die Soldaten mit ihren Kommandanten, und wenn Feinde uns angreifen – und das wird nicht ausbleiben, früher oder später wird es Krieg geben –, werden wir uns des Sieges absolut sicher sein. Wir wissen, was wir beschützen, womit wir beschützen und wen wir beschützen.“ (S. 42)

Tatsächlich war die Sowjetunion militärisch nicht ansatzweise auf den Angriff vorbereitet. Im Großen Terror war 1937 ein Großteil der Führung der Roten Armee umgebracht worden. Die meisten Opfer waren noch unter der Leitung Leo Trotzkis ausgebildet worden, der die Rote Armee von 1919 bis 1924 geleitet hatte. Das Land war – sehr zur Freude von Hitler – militärisch praktisch enthauptet.

Schon Hitlers Machtübernahme im Januar 1933 war ein Ergebnis der verheerenden Politik der stalinistischen Bürokratie. Der linksradikale Kurs, den sie der Kommunistischen Partei Deutschlands aufzwang, hatte einen vereinten Kampf der deutschen Arbeiterklasse gegen die Nationalsozialisten verhindert und Hitlers Sieg ermöglicht.

In den Monaten danach schwenkte die stalinistische Bürokratie auf den Kurs der „Volksfront“ ein. Der Kampf für den Sozialismus durch die revolutionäre Mobilisierung der Arbeiterklasse wurde explizit abgelehnt. Stattdessen sollten sich die Arbeiter in Spanien und Frankreich auf die Unterstützung der bürgerlichen Demokratie gegen den Faschismus beschränken. Die Folge waren weitere verheerende Niederlagen. Gleichzeitig wurden in der Sowjetunion zehntausende Trotzkisten sowie hunderttausende weitere sozialistischer Arbeiter und Intellektuelle umgebracht.

1939 schloss Stalin dann einen Pakt mit Hitler, durch den er meinte, einen deutschen Angriff auf die Sowjetunion verhindern zu können. In Wahrheit ebnete der Pakt den Weg für den deutschen Einmarsch in Polen wenige Wochen später.

Während Leo Trotzki, neben Lenin der wichtigste Führer der Oktoberrevolution, im Exil unaufhörlich vor einem Angriff der Nationalsozialisten auf die Sowjetunion warnte, wiegte die stalinistische Bürokratie die Bevölkerung auf kriminelle Art und Weise in Sicherheit.

Für Lena, wie für Millionen Arbeiter, Intellektuelle und Bauern, kam der Überfall auf die Sowjetunion dann wie ein Schock. Die Rote Armee wurde während der ersten Kriegsmonate schnell zurückgeschlagen. Ende des Jahres stand die Wehrmacht vor Moskau. Armee und Bevölkerung waren zutiefst demoralisiert. Das Vertrauen in die Sowjetregierung, sofern es nach dem blutigen Terror der 1930er Jahre noch bestand, war erschüttert.

Nachdem die Rote Armee die ukrainische Hauptstadt Kiew hatte aufgeben müssen – bei der Schlacht verloren rund 500.000 Rotarmisten ihr Leben –, schrieb Lena Muchina am 22. September: „Ich bin noch am Leben und kann Tagebuch schreiben. Ich bin jetzt gar nicht mehr davon überzeugt, dass Leningrad nicht aufgegeben wird. So viel ist geredet worden, so viele große Worte und Reden haben wir vernommen: Kiew und Leningrad sind unbezwingbare Festungen!!! … Niemals wird ein Faschist den Fuß in die blühende Hauptstadt der Ukraine setzen, niemals wird er die nördliche Perle des Landes – Leningrad – betreten. Doch heute wird im Radio gemeldet: … nach erbitterten mehrtägigen Kämpfen hat unsere Armee Kiew … verlassen! Was bedeutet das? Niemand versteht es.“ (S. 115-116)

Bereits im Herbst 1941 ist Leningrad praktisch eingekreist. Nur der Ladoga-See ist als Verbindung zur Außenwelt nicht von den Nazis abgeschnitten worden. Im September beginnen die Luftangriffe mit Brand- und Sprengbomben, denen bis zum Ende des Krieges rund 50.000 Menschen zum Opfer fallen – 16.474 Tote und 33.782 Verletzte. (1)

In mehreren Einträgen gibt Lena ihrem Hass auf die Faschisten Ausdruck, die bei ihrem Vormarsch grausame Massaker und Vergewaltigungen verüben und ganze Landstriche in Schutt und Asche legen.

Ab November bombardieren die Nazis gezielt Brotfabriken, Schlachthöfe, Großküchen und Elektrizitätswerke. So bricht bis zum Winter – einem der kältesten des 20. Jahrhunderts – nicht nur die Lebensmittel-, sondern auch die Energieversorgung der Bevölkerung fast vollständig zusammen. Auch Wasser kommt nur noch gelegentlich aus den Leitungen.

Die Tagebucheinträge, die bis dahin von politischen und persönlichen Sorgen und Gedanken geprägt waren, drehen sich zunehmend nur noch um zwei Dinge: die Kälte und den Hunger. Am 21. November, ihrem Geburtstag, bekommt Lena fast nichts zu essen. Die Brotration liegt für Schüler zu diesem Zeitpunkt bei 125g – was einer extrem dünnen Scheibe Brot entspricht. Ansonsten ernähren sich Lena, ihre Tante und Aka hauptsächlich von heißer Mehlsuppe und ein paar Bonbons.

Am 22. November schreibt Lena: „Das Gas funktioniert nicht, Petroleum wird nicht verkauft, die Menschen kochen ihr Mittagessen auf den Öfen mit Brennholz und Spänen. Aber die meisten Menschen sind auf verschiedene Kantinen angewiesen. Inzwischen geht kaum jemand mehr in den Luftschutzkeller hinunter, weil die Menschen aufgrund systematischer Unterernährung nicht mehr die Kraft haben, Treppenstufen herauf- und hinunterzusteigen.“ (S. 146)

Wie hunderttausende andere auch, schlachtet Lenas Familie im Dezember den Kater. Bis zum Ende des Jahres sind alle Katzen und Hunde sowie auch Ratten und Mäuse aus Leningrad verschwunden. Die Wohnungsgebäude werden größtenteils nicht geheizt. Die extreme Kälte und Unterernährung führt zum Massensterben. Im Dezember sterben knapp 40.000 Menschen, im Januar und Februar 1943 sind es jeweils fast 100.000. Bis zum Sommer 1942 sterben weitere 150.000 Menschen. Angesichts der ungeheuren Hungersnot kommt es zu Fällen von Kannibalismus.

Auch Aka und Lenas Tante verhungern im Winter. Aka, die bereits 76 ist, stirbt völlig entkräftet am 1. Januar 1942.

Lenas Tagebucheinträge werden immer verzweifelter.

Am 3. Januar schreibt sie wütend: „Wir sterben hier vor Hunger wie die Fliegen, aber in Moskau hat Stalin gestern wieder ein Essen zu Ehren Edens [gemeint ist der britische Außenminister Anthony Eden] gegeben. Das ist empörend, sie fressen dort wie die Teufel, während wir noch nicht einmal unser Stück Brot bekommen, wie es sich gehört. Sie veranstalten alle möglichen glänzenden Empfänge, während wir wie Höhlenmenschen, wie blinde Maulwürfe leben.“ (S. 187-188)

Anfang Februar stirbt auch Lenas Tante. Sie ist verzweifelt und selbst am Rande des Hungertodes. Nur die Lebensmittelkarten ihrer Tante, die Lena weiter verwenden darf, retten sie vor dem Verhungern.

Fast vollkommen auf sich allein gestellt macht sie nun Pläne, um aus Leningrad über die „Straße des Lebens“ – den Ladogasee – wegzukommen. Sie will zu Verwandten in Moskau ziehen. Über den Ladogasee, die einzige Verbindung von Leningrad ins Hinterland der Sowjetunion, werden bis April über eine halbe Millionen Menschen evakuiert. Lena gelingt die Flucht wohl Ende Mai. Am 25. Mai bricht ihr Tagebuch ab.

Ab 1943 kann die Rote Armee nach dem Sieg in Stalingrad die Wehrmacht auch vor Leningrad in mehreren Offensiven zurückschlagen. Vollständig befreit wird die Stadt jedoch erst am 27. Januar 1944. Bis dahin ist jeder dritte Leningrader ums Leben gekommen und über eine Millionen Rotarmisten bei der Verteidigung der Stadt gefallen.

Nach dem Krieg kann Lena nicht – wie sie es sich gewünscht hatte – weiter studieren. Sie macht eine Ausbildung und arbeitet in verschiedenen Betrieben. Wie viele Überlebende der Blockade hat sie für den Rest ihres Lebens ernsthafte gesundheitliche Probleme. Sie stirbt 1991, wenige Monate vor der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie.

Die hohen Opferzahlen der Blockade waren keineswegs ein ungewolltes Beiprodukt des Krieges. Vielmehr war die Ausrottung der Bevölkerung in und um Leningrad ein fester Bestandteil des sogenannten „Generalplanes Ost“ der Nationalsozialisten, auf dem der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion basierte.

Die Planer des Wirtschaftsstabes Ost schrieben: „Viele 10 Millionen Menschen werden in diesem Gebiet [Nord- und Zentralrussland] überflüssig und werden sterben oder nach Sibirien auswandern müssen.“ Insgesamt sollten 30 Millionen Sowjetbürger dem Hungertod preisgegeben werden.

Das Ziel des Planes bestand darin, „Lebensraum im Osten“ zu schaffen. An Stelle der „Slawen“ sollten Deutsche in Westrussland und Osteuropa angesiedelt werden. Der Vernichtungskrieg im Osten sollte außerdem dafür sorgen, dass die Wehrmacht und die deutsche Bevölkerung ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt werden, um den Krieg gegen England und Großbritannien zu gewinnen. Die Nahrungsmittel dafür sollten aus Russland und der Ukraine kommen.

Der „Generalplan Ost“ knüpfte an die Kriegsstrategie und Erfahrungen des deutschen Imperialismus im Ersten Weltkrieg an. Schon damals sollte die Ukraine als „Kornkammer Europas“ unter deutsche Kontrolle gebracht werden. Wie die Kriegsstrategie gegen Frankreich, scheiterte jedoch auch diejenige im Osten. Die enorme Versorgungsnot führte zur Massenhungersnot im Deutschen Reich: zwischen 1914 und 1918 verhungerten in Deutschland rund 800.000 Menschen. Die Massenarmut und der Hunger gehörten zu den wesentlichen Triebkräften der Novemberrevolution 1918/19, die nur durch den Verrat der Sozialdemokratie abgewürgt werden konnte.

Die Nazis wollten eine derartige Situation um jeden Preis vermeiden. Hermann Göring, Oberbefehlshaber der Deutschen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg, spielte eine wichtige Rolle bei der Entscheidung vom Herbst 1941, Leningrad nicht zu erobern, sondern zu belagern und auszuhungern. Er erklärte: „Wenn gehungert wird, dann hungert nicht der Deutsche.“

Die Belagerung von Leningrad und Moskau sowie anderer Großstädte wie Kiew, Charkow und Sewastopol in der Ukraine war ein wesentlicher Bestandteil dieser Strategie. Doch nirgends wurde die Blockade so erbarmungslos durchgesetzt wie in Leningrad. Hitler selbst erklärte, die Stadt solle dem Erdboden gleichgemacht werden. In den Plänen für das „germanisierte Russland“ kam Leningrad mit seiner Bevölkerung von drei Millionen nicht mehr vor.

Die Stadt war aus mehreren Gründen von Bedeutung: Hier hatte im Oktober 1917 die erste Arbeiterrevolution der Weltgeschichte stattgefunden. Leningrad war deshalb sowohl für die Nazis, die die Sowjetunion und Errungenschaften der Arbeiterklasse zerschlagen wollten, wie für die Sowjetbevölkerung von großer symbolischer Bedeutung.

Leningrad war außerdem das zweitgrößte Industriezentrum der Sowjetunion. Die „Vernichtungsstrategie“ der Nazis richtete sich in Westrussland und den Großstädten vor allem gegen die Arbeiterklasse. Auch strategisch war die Hafenstadt Leningrad wichtig: durch die Eroberung wollten die Nazis den Ostseeraum unter ihre Kontrolle bringen.

Anmerkungen

1) Jörg Ganzenmüller: „Das belagerte Leningrad 1941-1944: Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern“, Paderborn 2007, S. 66.

2) Zitiert in: Ebd., S. 47.

3) Zitiert in: Ebd.., S. 63.

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