Als vor zehn Jahren, am 1. Januar 2005, die so genannte Hartz-IV-Reform in Kraft trat, war die rot-grüne Bundesregierung schon fast sieben Jahre im Amt. In enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften leitete sie den größten Sozialabbau in der deutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg ein.
Die Auswirkungen waren verheerend. Das vierte Gesetz zur Arbeitsmarktreform, entwickelt von der Hartz-Kommission, zerschlug das bis dahin gültige Sozialsystem und setzte Arbeitslose und Arbeiter massiv unter Druck. Den Auftrag dazu hatte die Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) und Vizekanzler und Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne) gegeben.
Seit 2005 erhalten Arbeitslose in der Regel nur noch ein Jahr lang Geld in einer vom letzten Lohn abhängigen Höhe: das Arbeitslosengeld I (ALG I). Danach erhalten sie einen Regelsatz in Höhe von maximal 399 Euro (ab 2015): das Arbeitslosengeld II (ALG II). Für dieses hat sich der Begriff Hartz IV durchgesetzt.
Die „Reform“ führt angeblich Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammen. Doch in Wirklichkeit wurde die Arbeitslosenhilfe, deren Höhe vor 2005 vom Lohn abhängig war, abgeschafft. Sie wurde durch das ALG II ersetzt, das der Höhe und dem Inhalt nach der früheren Sozialhilfe entspricht. Es ist ein Almosen, das zu einem Leben in Armut verdammt.
Im November 2014 waren offiziell sechs Millionen Menschen von Hartz IV-Leistungen abhängig, davon 4,3 Millionen Erwerbsfähige und rund 1,7 Millionen Kinder unter fünfzehn Jahren. Hinzu kommt eine halbe Million älterer Menschen, deren Renten unter dem Hartz-IV-Satz liegen und bis zu diesem Regelsatz aufgestockt werden.
Gleichzeitig mit dieser drastischen Kürzung für viele Arbeitslose wurde der Druck erhöht, jede Arbeit anzunehmen. Weigert man sich oder kommt einer Auflage des Jobcenter – die nicht selten schikanös sind – nicht nach, drohen Sanktionen.
Solche Sanktionen drücken die Betroffenen sogar noch unter das vom Staat willkürlich festgelegte Existenzminimum, das angeblich bei 399 Euro im Monat für einen Alleinstehenden (plus Miet- und Heizungspauschale) liegt.
Im August 2014 (– neuere Zahlen liegen nicht vor) erhielten etwa 140.000 arbeitslose Erwachsene und rund 35.000 unter 25-Jährige mindestens eine Sanktion. Den Älteren wurden durchschnittlich 107 Euro, den Jüngeren sogar fast 123 Euro abgezogen! Bei jungen Menschen unter 25 Jahren sind sogar hundertprozentige Kürzungen des Regelsatzes möglich. Die steigende Zahl obdachloser junger Menschen ist nicht zuletzt auf diese Sanktionspraktiken der Jobcenter zurückzuführen.
Heribert Prantl weist in der Süddeutschen Zeitung darauf hin, dass der „Sanktionsparagraf 31 des Sozialgesetzbuches II Kern und Zentrum des gesamten Hartz-Gesetzes ist“. Der längste Paragraf behandle die Hartz-IV-Empfänger „als potenzielle Faulpelze, denen man die Faulpelzerei auf Schritt und Tritt austreiben muss“.
Hartz-IV verwandelt die Arbeitslosen von Opfern des Wirtschaftssystems in Täter, die sich staatliche Leistungen ohne Gegenleistung erschleichen. Millionen wurden in den vergangenen zehn Jahren zu staatlicher Zwangsarbeit – den so genannten Ein-Euro-Jobs – verpflichtet. Im November arbeiteten bundesweit über 104.000 in einem solchen Job.
„Das Prinzip des Förderns und Forderns funktioniert“, erklärte Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit (BA), in einer Bilanz zum zehnjährigen Bestehen der Hartz-IV-Gesetze.
Doch die Hartz-Gesetze dienten neben der Verarmung der Arbeitslosen vor allem dem Aufbau eines breiten Niedriglohnsektors. Mehr als jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland arbeitet inzwischen für einen Stundenlohn von unter zehn Euro brutto, das sind fast zehn Millionen Menschen. Armut und soziale Ungleichheit in Deutschland steigen.
Jobcenter und Arbeitsagenturen tragen dazu auf mehreren Ebenen bei. Zwischen ihnen und den Leih- und Zeitarbeitsfirmen hat sich eine regelrechte Arbeitsteilung etabliert. In der Zeitarbeitsbranche arbeiten aktuell etwa 900.000 Menschen, rund drei Viertel davon im Niedriglohnbereich.
Bei fast jedem zehnten Leiharbeiter war das Einkommen so niedrig, dass er oder sie zusätzlich Hartz IV-Leistungen erhielt, – wie bundesweit insgesamt 1,3 Millionen Arbeiter. Mehr als dreißig Prozent aller von Arbeitsagenturen und Jobcentern vermittelten Arbeitslosen landen in der Zeitarbeit. Viele von ihnen sind nach einem halben Jahr wieder arbeitslos und stehen erneut Schlange in Jobcentern und Arbeitsagenturen.
Gleichzeitig wurden die Hartz-IV-Gesetze benutzt, um alle Arbeiter einzuschüchtern. Weil Arbeitslose nach einem Jahr zum Leben in Armut verdammt sind, ganz unabhängig davon, welchen Job sie vorher ausgeübt hatten und wie lange sie in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, konnten Belegschaften in Betrieben und Verwaltungen erpresst und gezwungen werden, Lohnkürzungen und soziale Verschlechterungen zu akzeptieren. Die Umwandlung von Vollzeit- in Teilzeit-Stellen, die Zunahme der befristeten Beschäftigung, Lohnkürzungen, eine Erhöhung der Arbeitshetze usw. sind die Folge.
„Genau dies war die Intention der 2003/2004 politisch Verantwortlichen“, heißt es in einer Hartz-IV-Bilanz des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), in der die Arbeitsmarktreform kritisiert wird.
Dreister geht es nicht.
Die Hartz-Gesetze stammen in hohem Maß aus der Feder der Gewerkschaften. Ihre Vertreter saßen gemeinsam mit denen der Wirtschaft und der Bundesregierung in der von Peter Hartz geleiteten Kommission an einem Tisch, die all die Kürzungsmaßnahmen ausarbeitete, die dann unter dem Namen des Kommissionsleiters umgesetzt wurden. Mitglieder der Kommission waren Peter Gasse (SPD), damals Bezirksleiter der IG Metall in Nordrhein-Westfalen, sein Vorgänger Harald Schartau (SPD), damals schon Minister für Arbeit und Soziales in NRW, sowie Isolde Kunkel-Weber vom Verdi-Bundesvorstand.
Peter Hartz selbst war und ist IGM- und SPD-Mitglied. Über diese Schiene war er zum Personalchef des VW-Konzerns aufgestiegen, was ihn in den Augen der damaligen rot-grünen Bundesregierung dafür qualifizierte, die umfangreichsten Sozialkürzungen der Nachkriegsgeschichte auszuarbeiten. Auf diesem Posten blieb er, bis er ihn 2005 durch einen schmutzigen Korruptions- und Sexskandal verlassen musste.
Unter der Schröder-Regierung verschmolzen die Gewerkschaften vollständig mit dem Staat. Sie setzten die Angriffe im Rahmen von Schröders „Agenda 2010“ in der Praxis durch und unterdrückten jeden ernsthaften Widerstand.
Als 2004 Hunderttausende auf zahlreichen Demonstrationen gegen die bevorstehende Hartz-IV-Reform protestierten, beteiligten sich die Gewerkschaften bewusst nicht daran. Sie stärkten stattdessen Kanzler Schröder den Rücken, der immer wieder erklärte, er werde sich nicht „der Straße“ beugen. Nach einer Serie von Landtags-Wahlniederlagen der SPD rief er lieber Neuwahlen aus, als auch nur ein Jota von seiner Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen abzurücken.
Rot-Grün ebnete so Angela Merkel (CDU) den Weg an die Macht, die die unsoziale Agenda-Politik fortsetzte.
Die Gewerkschaften machten in der Zusammenarbeit mit Merkel dort weiter, wo sie mit Schröder aufgehört hatten. Insbesondere im Zuge der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise kooperierten die Gewerkschaften aufs Engste mit Regierung und Konzernen, um die Last der Krise auf die Arbeiterklasse abzuwälzen.
Es war daher kein Zufall, dass der Vorsitzende der IG Metall, Berthold Huber, 2010 seinen 60. Geburtstag auf Einladung der Regierungschefin im Berliner Kanzleramt feierte. Geladen waren damals neben Arbeitgeber-Präsident Martin Kannegiesser, Siemens-Chef Peter Löscher und VW-Chef Martin Winterkorn auch der damalige DGB-Vorsitzende Michael Sommer und Betriebsräte großer Konzerne, unter ihnen Klaus Franz von Opel und Uwe Hück von Porsche.
Die Anti-Hartz-IV-Proteste hatten 2004 auch die Entstehung der Linkspartei beschleunigt. In der Protestbewegung, die sich außerhalb der Kontrolle der Gewerkschaften, der SPD und der damaligen PDS entwickelte, erblickte Oskar Lafontaine damals ein Warnsignal. Um eine Radikalisierung zu verhindern, ergriff er gemeinsam mit Gewerkschaftsfunktionären die Initiative zum Aufbau der „Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ (WASG) und forcierte deren Zusammenschluss mit der PDS im Jahr 2007.
Die Nachfolger der SED hatten bereits seit 2001 in ihrer Koalition mit der SPD in Berlin bewiesen, dass sie sehr wohl die Interessen der Banken und Konzerne gegen die der Beschäftigten und Arbeitslosen vertraten. Sie hatten gemeinsam mit Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) nicht nur der Senkung der Löhne im öffentlichen Dienst um bis zu zwölf Prozent zugestimmt, sondern in Berlin auch Abertausende Hartz-IV-Empfänger als Ein-Euro-Jobber eingesetzt.
Seit der Rückkehr der SPD in die Bundesregierung als Teil der Großen Koalition werden die Angriffe auf Sozialleistungen und Löhne noch weiter verschärft. Zusätzlich zu Hartz IV werden nun Migranten in rechtlose Arbeitssklaven verwandelt, die gezwungen sind, Arbeit zu allen Bedingungen anzunehmen. Diese sollen dann, wie seit zehn Jahren die Hartz-IV-Empfänger, als Brechstange dienen, um die Arbeitsbedingungen aller Beschäftigten noch weiter auszuhebeln und Sozialstandards vollständig zu schleifen. Christoph Schmidt, der Vorsitzende des Sachverständigenrats der Bundesregierung, erklärte bereits, der Staat müsse aufhören, „Milliarden ins Sozialsystem“ zu pumpen.
Die so eingesparten „Milliarden“ sollen der aggressiven Außenpolitik und der Remilitarisierung Deutschlands zugutekommen. Die Gewerkschaften und alle Parteien, einschließlich der Linkspartei, tragen diese Politik mit und setzen sie gegen den Widerstand der Bevölkerung durch.