Am Montag traten die Lehrer und Erzieher in ganz Griechenland in einen 24-stündigen Streik. Etwa 10.000 Lehrer, Schüler und Eltern gingen in Athen auf die Straße und protestierten gegen die jüngsten Angriffe auf das öffentliche Bildungssystem und die fehlenden Corona-Schutzmaßnahmen an den Schulen.
Auch in anderen Städten beteiligten sich Tausende an den Kundgebungen und Streiks – den größten im griechischen Bildungsbereich seit einigen Jahren. Der Widerstand in Griechenland trifft zusammen mit wachsenden Protesten gegen die tödliche Coronapolitik der Regierungen weltweit wie dem globalen Schulstreik am 15. Oktober, der von Eltern in Großbritannien organisiert wird.
Laut Angaben der griechischen Lehrerverbände folgten etwa 70 Prozent der Lehrer und Erzieher landesweit dem Streikaufruf. In der Region Attika, zu der die Hauptstadt gehört, legten auch die Angestellten des Öffentlichen Diensts für drei Stunden ihre Arbeit nieder. Bereits vor zwei Wochen fanden Schulbesetzungen von Jugendlichen in ganz Griechenland statt.
Die Proteste richten sich insbesondere gegen neue Gesetze der Regierung unter der rechten Nea Dimokratia (ND), die zu einer weiteren Aushöhlung des öffentlichen Bildungswesens führen werden. Im Sommer verabschiedete das Parlament ein Gesetz für ein neues Evaluierungssystem an den Schulen, das auf massiven Widerstand der Lehrer stößt. Darauf reagiert die Regierung mit einem Frontalangriff auf das Streikrecht.
Als die Lehrergewerkschaften vor zwei Wochen zu einem Streik gegen das Bewertungssystem aufriefen, reichte Bildungsministerin Niki Kerameos (ND) Klage ein, der in erster Instanz vom Gericht stattgegeben wurde. Der Streik wurde als illegal und missbräuchlich verboten, mit der Begründung, dass er sich gegen ein bereits verabschiedetes Gesetz richtet. Daraufhin legten die Gewerkschaften Berufung ein und kündigten einen neuen Streik an, gegen den Kerameos erneut gerichtlich ins Feld zog.
Dass die Lehrergewerkschaften OLME (Sekundarstufe) und DOE (Grundschule) die Streiks organisiert haben, ist eine Reaktion auf die enorme Opposition und brodelnde Stimmung unter Lehrern und Schülern. Doch die Ziele der Gewerkschaften stehen in diametralem Gegensatz zu denen der Streikenden. Während letztere ihren Kampf ausweiten und gegen die Regierung richten wollen, versuchen die Gewerkschaften, den Widerstand zu kontrolliere und letztlich zu unterdrücken.
Der Vorsitzende von OLME Theodoros Tsouchlas ist Mitglied der Regierungspartei ND und dessen Gewerkschaftsflügel DAKE. Im letzten Herbst hatte er in einem Interview mit dem rechtsextremen Journalisten und ND-Abgeordneten Konstantinos Bogdanos versichert, dass OLME vor allem die Schulöffnungen in der Pandemie ermöglichen und Schulbesetzungen eindämmen will.
Während der ganzen anderthalb Jahre Pandemie waren die Lehrergewerkschaften mitverantwortlich für die unsichere Öffnung der Schulen. Es ist bezeichnend, dass sie im jetzigen Streik nicht einmal Forderungen für Coronaschutz aufgestellt haben, obwohl unter den Lehrern die Sorgen vor der Ansteckungsgefahr an den Schulen allgegenwärtig sind.
Die Demonstranten versammelten sich am Montag vor dem Athener Berufungsgericht, wo zu dem Zeitpunkt über die Berufungsklage der Gewerkschaften verhandelt wurde. Sie marschierten von dort zum Parlamentsgebäude am Syntagma-Platz und vereinten sich mit den protestierenden Schülern.
Die World Socialist Web Site sprach mit Lehrern und Schülern über die Hintergründe des Streiks und die Lage an den Schulen, die Mitte September trotz steigenden Inzidenzen wieder für den vollen Präsenzunterricht geöffnet wurden.
Vasia Chioti, eine Grundschullehrerin in Athen, erklärte: „Das neue Bewertungssystem, das man uns aufzwingen will, verfolgt das Ziel, die Schulen zu kategorisieren und in verschiedene Geschwindigkeiten einzuteilen. Die Regierung will an den Schulen Unternehmensstrukturen einführen und sie dazu verpflichten, selbst Finanzmittel für den Schulbetrieb zu suchen. Es ist in Wirklichkeit eine Privatisierung der öffentlichen Bildung.“ Auch viele Eltern seien heute bei der Demonstration, weil sie befürchten, dass sie künftig Privatschulen für ihre Kinder zahlen müssen.
„Wir sind gegen diese ganzen Maßnahmen, weil alle Kinder – egal von welcher Klassenposition sie kommen – die gleichen Rechte und den gleichen Zugang zur Bildung haben müssen“, betont Vasia.
Die Lehrer wehren sich außerdem gegen den Mangel an Coronaschutz: „Gegen die Pandemie wurden eigentlich überhaupt keine grundlegenden Maßnahmen ergriffen, wie z.B. eine Verringerung der Schülerzahl in den Klassen. Im Gegenteil, wieder wird die ganze Verantwortung auf die Lehrer abgeschoben. Aber bei 25 Kindern in einem Klassenraum mit 40qm kann man nicht einmal die einfachsten Abstände einhalten“, so Vasia. Als Englischlehrerin arbeite sie in verschiedenen Klassenstufen, so dass sie in einer Woche auf etwa 200 Schüler trifft.
„Die Regierung sagt: Wenn ihr könnt, macht getrennte Pausen. Aber das geht gar nicht, weil die Arbeitszeiten der Lehrer sehr eingegrenzt sind. Oder die Kinder sollen von unterschiedlichen Türen reinkommen, aber die sind gar nicht vorhanden.“ Weil es für die Grundschulkinder noch keinen zugelassenen Impfstoff gibt, seien sie besonders gefährdet. „Wir sind sehr besorgt, wie sich der Winter entwickeln wird.“
Insgesamt sei die soziale Lage katastrophal: „Griechenland ist ja schon seit 2010 in der Krise und mit der Pandemie werden die Folgen noch schlimmer sein. Im letzten und vorletzten Jahr hatten viele Menschen keine Arbeit, die Verteuerung nimmt stark zu. Gleichzeitig werden in der Krise einige reicher und andere ärmer. So läuft es im Kapitalismus.“
Die Streikteilnahme unter ihren Kollegen sei „extrem groß“, weil ihre Situation bereits jetzt prekär ist: „Schon vor der Pandemie wurden die Gehälter der Lehrer gekürzt. Fast ein Drittel der Pädagogen in Griechenland sind Ersatzlehrer und zwar seit über 10 Jahren. Sie werden meist im September eingestellt und im Juni wieder entlassen. Das sind flexible Arbeitsverhältnisse.“
Auch Tasos Kosmas, der in einer Schule im Südathener Bezirk Nea Smyrni Informatik unterrichtet, warnt: „Unter dem Vorwand der Pandemie haben sie einen neuen Trick gefunden, nämlich Ersatzlehrer nur für drei Monate einzustellen, um Lücken in der Pandemie aufzufüllen. Das ist natürlich ein Vorwand, sie wollen die flexiblen Arbeitsverträge umsetzen, die es schon in Spanien oder Portugal gibt.“
Nicht festangestellte Lehrer bekommen etwa 700 Euro im Monat, so Tasos. Er habe eine feste Stelle. „Aber ich erreiche trotz meiner ganzen Uniabschlüsse nicht einmal 1000 Euro netto. Die Miete kostet etwa 500 Euro, Strom ist teurer geworden, Essen auch – es reicht einfach nicht.“ Viele Lehrer müssten zusätzlich zu ihrem regulären Job noch Privatunterricht geben, um über die Runden zu kommen. „Die Preise in unseren Supermärkten sind sogar höher als in Deutschland und Frankreich. Und wir haben ja auch schon zehn Jahre Memoranden hinter uns.“
In Griechenland haben alle etablierten Parteien – ND, die sozialdemokratische Pasok (heute Kinal) und die pseudolinke Syriza – im Rahmen der sogenannten „Memoranden“ die Spardiktate der Europäischen Union, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds durchgesetzt.
Tasos befürchtet, dass mit dem neuen Gesetz zur Evaluierung „die Privatisierung der Bildung durch die Hintertür“ komme und die Schulen in ein „Sprachrohr der Regierung“ verwandelt würden.
Er kritisiert auch die unsicheren Hygienebedingungen: „Es gab keine Aufteilung der Schulklassen, um die Corona-Gefahr zu minimieren. Es ist ein Klassensystem. Sie wollen keine wirkliche Bildung, sondern die Schulen als Lagerstätten für die Kinder nutzen, wo sie aufbewahrt werden, damit die Eltern zur Arbeit gehen können. Das ist ihr Ziel, nichts anderes.“
Wie überall auf der Welt sind auch die griechischen Schulen in einem maroden Zustand und mit enormen technischen und materiellen Mängeln konfrontiert. Als im letzten Jahr Distanzunterricht stattfand, seien etwa 20 Prozent der Schüler ausgeschlossen worden, weil sie kein Internet oder keine technische Ausstattung hatten. Die Regierung habe fast keine Unterstützung gegeben und die Lehrer mussten ihre eigenen technischen Geräte einsetzen. „Meine Schule hat 40 Tablets beantragt und nur 10 bekommen. In der Provinz ist es noch schlimmer, weil das Internet schlechter ist“, so Tasos.
Auf dem Syntagma-Platz versammelten sich auch Hunderte Schüler, unter ihnen Angelos, der mit seinen Mitschülern ein Banner hochhält: „Wir sind keine Kosten, wir sind die Zukunft“.
Die Schüler fordern eine Aufhebung der neuen Bestimmungen für die Prüfungen des griechischen Zentralabiturs und der höheren Zulassungshürden für Universitäten, die dazu geführt haben, dass in diesem Jahr 40.000 junge Menschen von den Hochschulen ausgeschlossen wurden.
Gegenüber der WSWS erklärt Angelos: „Wir wollen eine Schule, die uns universell bildet und wo wir nicht nur Kompetenzen erhalten, damit wir künftig unser Leben lang billige Arbeitskräfte sind. Wir wollen, dass alle freien und kostenlosen Zugang zur öffentlichen Bildung haben.“
Auch er ist wütend über den fehlenden Schutz an den Schulen: „Bei uns sind 25 Schüler in einem kleinen Klassenraum. Wir können gar keine Abstände halten. Unser Schulgebäude ist sehr alt. Obwohl wir seit letztem Jahr kostenlose Massentests fordern, gibt es bis heute keine.“
Die neue „50 Prozent plus 1“-Regel, d.h. dass eine Klasse erst geschlossen wird, wenn mehr als die Hälfte der Schüler erkrankt sind, sei besonders gefährlich. „Selbst wenn ein Sitznachbar infiziert wird, soll einfach nur ein Test gemacht werden. Es gibt gar keinen Schutz. Wir haben schon eine riesige Zahl von Covid-Toten und Schwererkrankten. Das muss aufhören.“
Deshalb haben Angelos und seine Mitschüler zuletzt die Schule besetzt und Schulversammlungen organisiert, um ihre Teilnahme an dem heutigen Streik zu planen. Er betont: „Die Priorität der Regierung sind die Konzerne, nicht die Schulen und die Mehrheit der Bevölkerung. Viel Geld wurde an einige Wenige gegeben, die nur Profite machen wollen. Wenn sie die Konzernchefs und nicht die Angestellten unterstützen oder wenn sie mitten in der Pandemie Gesetze einbringen, um Militärausrüstung zu kaufen, statt das Geld in die öffentliche Bildung zu investieren, dann sehen wir, was ihre Orientierung ist.“
Das Vorgehen der Regierung gegen die Proteste hält Angelos für einen „koordinierten Versuch, um den Kampf der Schüler einzudämmen. Die Regierung versucht mittels der Gerichtsverfahren, den Streik zu stoppen. Damit wollen sie uns terrorisieren.“
Ähnlich sieht es auch der Lehrer Tasos: „Mit diesen Angriffen wollen sie den Widerstand unterdrücken. Ich bin in den letzten zwei Jahren schon auf anderen Lehrerdemos gewesen und da haben sie ohne Anlass Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt. Sie wollen, dass sich keiner gegen ihre Politik wehrt.“
Deswegen hätten sie auch Millionen Euro in die etablierten Medien gesteckt, damit sie regierungstreu berichten. „Sie verstehen aber nicht, dass sie es damit noch schlimmer machen. Denn wir informieren uns über das Internet, das noch frei ist.“
Nea Dimokratia habe aufgrund ihrer katastrophalen Coronapolitik enorm an Unterstützung eingebüßt: „Mit über 15.000 Tote hat Griechenland einen der schlimmsten Rekorde in der EU. Das wird wie ein Bumerang auf sie zurückfallen. Sie sagen uns, dass das die neue Normalität ist. Sie wollen, dass wir alle das Virus bekommen.“ Er selbst habe sich im Juli infiziert, weil es keine Schutzmaßnahmen gab. „Die Pandemie darf aber nicht die neue Normalität sein.“
Tasos versucht sich vor allem mit seinen Kollegen und im Internet zu vernetzen. „Es muss Massenkämpfe geben. Wir brauchen vor allem gute Aufklärung, aber mit unseren eigenen Medien, denn die Massenmedien haben sich in Medien für Massenbetrug verwandelt.“
Seiner Auffassung nach verfolgen auch Syriza und die anderen Parteien in Griechenland ungefähr dieselbe Politik wie die Regierung. „Deshalb müssen wir etwas aufbauen, was wirklich die Bevölkerung vertritt. Aber oft werden die Streiks kontrolliert. Sehr wenige Organisationen sind für die Arbeitnehmer. Die meisten fungieren als Sprachrohr der jeweiligen Regierungen. Wir haben das in allen Berufszweigen gesehen und deshalb hat auch die Teilnahme an den Demonstrationen und Streiks abgenommen.“
Aber heute seien Massen auf die Straße gegangen. „Jeder Berufszweig leidet unter dieser Regierung, alle sind wütend. Die oben wollen aber nicht, dass sich alle vereinen, sondern sie versuchen, uns zu kontrollieren.“
Die Pandemie habe den Niedergang des Kapitalismus offen gezeigt. „Das System muss sich ändern – auch die Produktionsweise und der Umgang mit der Umwelt. Alles orientiert sich nur an Profit. Wir und unsere Kinder werden dafür bezahlen, dass wir unseren Planeten zerstören.“
Die World Socialist Web Site und das Internationale Komitee der Vierten Internationale rufen alle Lehrer, Schüler und Arbeiter in Griechenland auf, Aktionskomitees für sichere Bildung und sichere Arbeitsplätze aufzubauen und sich unabhängig von den Gewerkschaften und etablierten Parteien zu organisieren. Im Mai wurde die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC) ins Leben gerufen, um die Proteste der Arbeiter weltweit zu vernetzen und in der Pandemie für eine Strategie zur Ausrottung des Virus zu kämpfen.
Nehmt Kontakt mit uns auf registriert Euch hier für das Online-Webinar der WSWS und der IWA-RFC am 24. Oktober mit dem Titel „How to end the pandemic: the case for eradication“ („Wie die Pandemie beendet werden kann: Ein Plädoyer für die Ausrottung des Virus“).