Die Wannseekonferenz (2022). Regie: Matti Geschonneck. Drehbuch: Magnus Vattrodt und Paul Mommertz. Kamera und Schnitt: Dirk Grau
Zum 80. Jahrestag der berüchtigten Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942, bei der führende Nazis und Staatsminister die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas planten, ist seit dem 19. Januar der neue Film „Die Wannseekonferenz“ von Matti Geschonneck in der ZDF-Mediathek verfügbar. Am Montag, den 24. Januar, um 20:15 wird der Film im ZDF ausgestrahlt.
Geschonnecks Film, gedreht am Originalschauplatz, konzentriert sich fast ausschließlich auf die 90-minütige Sitzung in der Villa am Wannsee bei Berlin. Hier versammelten sich an einem Samstagmorgen auf Einladung von Reinhard Heydrich (Philipp Hochmair), dem Chef des Reichssicherheitshauptsamtes (RSHA) der SS, dem die Führungsrolle bei der „Endlösung“ zugewiesen war, führende Figuren des NS-Regimes, um sich zu einer „Besprechung mit anschließendem Frühstück“ zu treffen. Auf der Tagesordnung: „Die Endlösung der Judenfrage“.
Neben Heydrich waren die Teilnehmer:
- Adolf Eichmann (Johannes Allmayer), SS-Obersturmbannführer und Protokollant der Sitzung
- Heinrich Müller (Jakob Diehl), SS-Gruppenführer und Chef der Gestapo des RSHA
- Martin Luther (Simon Schwarz), Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt
- Josef Bühler (Sascha Nathan), Staatssekretär im Amt des Generalgouverneurs vom besetzen Polen, Hans Frank
- Roland Freisler (Arnd Klawitter), Staatssekretär im Reichsjustizministerium und späterer Präsident des Volksgerichtshofes (rund ein Jahr später sollte er in dieser Position die Geschwister Scholl zum Tode verurteilen)
- Gerhard Klopfer (Fabian Busch), Ministerialdirektor in der Parteikanzlei der NSDAP
- Friedrich Wilhelm Kritzinger (Thomas Loibl), Ministerialdirektor in der Reichskanzlei
- Rudolf Lange (Frederic Linkeman), SS-Sturmbannführer und Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Lettland
- Otto-Hofmann (Markus Schleinzer), Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS
- Georg Leibbrandt (Rafael Stachowiak) und Alfred Meyer (Peter Jordan), beide vom Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete
- Erich Neumann (Matthias Bundschuh), Staatssekretär im Amt des Beauftragten für den Vierjahresplan
- Karl Eberhard Schöngarth (Maximilian Brückner), Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD im Generalgouvernement Polen
- Wilhelm Stuckart (Godehard Giese), Mit-Autor der Nürnberger Rassengesetze und damaliger Staatssekretär im Reichsministerium des Innern
Zu Beginn des Filmes sehen wir die letzten Minuten der Vorbereitungen auf die Sitzung: Die Dokumente, darunter eine von Eichmann zusammengestellte Auflistung von 11 Millionen Juden in Europa, werden für jeden Teilnehmer auf dem Tisch zusammengerückt; Lachshäppchen, Cognac und Kaffee werden bereitgestellt.
Heydrich, der sich zu letzten Vorunterredungen erst mit Martin Luther, dem Unterstaatssekretär des Auswärtigen Amtes, und dann den SS-Obersturmbannführern Lange und Schöngarth und Gestapo-Chef Müller zurückzieht, sagt zu Eichmann: „Unterhalten Sie die Herren mit Geschichten aus dem Osten.“
Neben Eichmann und Müller ist vor allem Luther vom Auswärtigen Amt am engsten in die Pläne und Vorbereitungen des RSHA zur Judenvernichtung eingeweiht; er versichert Heydrich noch vor der Sitzung „vollständigen Zugriff“ auf Juden „aller Nationalitäten“ in Europa. „Die Zeit der Rücksichtnahme ist vorbei.“
In Heydrichs Büro mit Blick auf den See berichten Schöngarth und Lange von der Ostfront, an der die Nazis seit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 hunderttausende Juden in Massengräbern erschossen haben. Lange erklärt, dass „Estland judenfrei“ sei, auch Lettland und Litauen seien „bis auf Arbeitsjuden ebenfalls judenfrei“.
Zu dem Zeitpunkt der Wannseekonferenz hatten die Nazis, mit der Hilfe von lokalen faschistischen Kollaborateuren,bereits 537.000 sowjetische Juden ermordet. Heydrich warnt seine SS-Leute, dass die Staatssekretäre aus etwas anderem Holz geschnitzt seien als die SS. Aber: „Die Herren sollen ruhig wissen, woran sie sich beteiligen, das schließt die Reihen.“ Es sei nur eine „Frage der Dosierung“.
Die Sitzung eröffnet mit einem Verweis Heydrichs darauf, dass Estland „judenfrei“ sei. Die Teilnehmer klopfen alle applaudierend auf den Tisch.
Die Sitzung selbst drehte sich in erster Linie um zwei Fragen: erstens wollte Heydrich alle involvierten Staatsbehörden auf den industrialisierten Massenmord einstimmen und sie dazu bringen, die Hauptrolle seiner Behörde – des Reichssicherheitshauptamtes – dabei anzuerkennen. Beißend zeigt der Film ein gespenstisch anmutendes Hickhack zwischen Staatssekretären, die ihre Ministerien in ihren Kompetenzen beschränkt sehen. Die Hauptsorge Bühlers ist, dass die 2 Millionen polnischen Juden im Generalgouvernement als erste deportiert und ermordet werden.
Was genau mit den Juden geschieht, wird an keiner Stelle klar gesagt. Auch dies ist historisch korrekt. Im Protokoll der Wannseekonferenz selbst ist nur von einer „Evakuation“ in den Osten die Rede. Der andere, vielleicht noch verstörendere Begriff, der in der Konferenz mehrfach benutzt wird, ist „wegarbeiten“.
Zweitens beschäftigte sich der weitaus längste Teil der Sitzung mit der so genannten „Mischlingsfrage“, d.h. deutschen Juden, die nach den Nürnberger Rassengesetzen von 1935 als „Halbjuden“ oder „Vierteljuden“ klassifiziert worden waren. Stuckart, selbst einer der Autoren dieser Gesetze, besteht darauf, dass sie von den Deportationen ausgenommen werden, und schlägt stattdessen ihre massenhafte Zwangsterilisation vor.
Wie auch mehrere andere Staatssekretäre war Stuckart in erster Linie besorgt, dass die Massendeportation von Juden aus dem Deutschen Reich zu „Unruhen“, „Irritationen und Nachfragen“ in der Bevölkerung führen würden. An einer Stelle sagt Stuckart, im Falle von Massendeportationen dieser rund 70.000 Menschen drohe „Chaos, und aus Chaos erwächst Widerstand“.
Grundlegende Einwände gegen den Massenmord äußert niemand. Erich Neumann, Staatssekretär in Görings Amt für den Vierjahresplan, betont wiederholt, notwendige jüdische Fachkräfte in Deutschland müssten von den Deportationen ausgenommen sein, um die Wirtschaft nicht zu gefährden. Auch dürfe man jüdische Arbeitskräfte im Osten nicht einfach vergeuden. Heydrich beruhigt ihn: Das Kriterium der „arbeitsfähigen“ und „nichtarbeitsfähigen“ Juden werde nun eine größere Rolle spielen. „Arbeitsfähige Juden“ würden erst für die Kriegswirtschaft verwendet, bevor auch sie „der Endlösung zugefügt“ würden.
An einer anderen Stelle äußern Staatssekretäre Bedenken, Massentransporte mitten im Krieg würden den Kriegsaufwand beeinträchtigen. Heydrich entgegnet: „Der Krieg ist kein Hindernis, sondern eine Chance“, es könnten nun Sachen gemacht und erreicht werden, die unter Friedensbedingungen unmöglich seien.
Staatssekretär Kritzinger, der sich etwas verstört zeigt ob der Berichte aus dem Osten, ist in erster Linie über die Auswirkungen brutaler Erschießungen auf „unsere deutschen Soldaten“ besorgt. Am Ende der Sitzung berechnet er auf Grundlage der Erschießung von über 33.000 Juden in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew, die ja „unter idealen Bedingungen“ innerhalb von drei Tagen stattgefunden hätten, dass 450 Tage lang ununterbrochen Massenerschießungen notwendig wären, um alle 11 Millionen Juden „wegzuarbeiten“.
Heydrich zeigt Verständnis. Selbst Heinrich Himmler sei betroffen gewesen, als er solchen Massenerschießungen beigewohnt habe. Er habe umgehend darum gebeten, dass „humanere“ Methoden des Massenmords – „humaner“ für die Mörder – gefunden werden. Es seien seitdem auf Grundlage der „Erkenntnisse“ aus der Euthanasie-Aktion T4, bei der 70.000 körperlich behinderte und geistig kranke Menschen vergast worden waren, neue Methoden entwickelt worden.
In Auschwitz habe Rudolf Höß mit Zyklon B „vielversprechende Versuche“ an russischen Kriegsgefangenen gemacht. Man könne davon ausgehen, dass in naher Zukunft tausende Menschen pro Tag allein in Auschwitz so „weggearbeitet“ werden könnten. Von diesen Versicherungen beruhigt, verlässt Kritzinger am Ende die Villa, und eilt zur nächsten Sitzung, bei der die „Umstrukturierung der Post“ auf der Tagesordnung steht.
Bis auf Adolf Eichmann, der 1961 in Israel zum Tode verurteilt und 1962 hingerichtet wurde, nachdem er lange ungestört im Exil in Argentinien Nazi-Seilschaften weiter gepflegt hatte, sowie Bühler und Schöngarth wurde kaum einer der Teilnehmer der Wannseekonferenz zur Rechenschaft gezogen. Mehrere von ihnen, darunter Georg Leibbrandt, der Berater der Adenauer-Regierung wurde, konnten in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit ungestört weiter Karriere machen. (Siehe auch: 80 Jahre seit der Wannsee-Konferenz)
Die Drehbuchautoren Magnus Vattrodt und Paul Mommertz haben das Drehbuch auf Grundlage des einzig erhalten gebliebenen Protokolls der Konferenz – alle weiteren Exemplare wurden vernichtet, da die Besprechung offiziell nie stattgefunden hatte – sowie umfangreicher historischer Recherchen verfasst.
Der Film verzichtet gänzlich auf Musik und verlässt sich auf die Arbeit der Kamera und das Kammerspiel der ausgezeichneten Schauspieler. Geschonneck, dessen Vater, der berühmte DDR-Schauspieler Erwin Geschonneck, selbst mehrere KZs überlebt hat, soll seinen Schauspielern gesagt haben, sie sollten keine Nazis spielen. Dem Deutschlandfunk sagte er, das Treffen solle den „Charakter einer Vorstandssitzung“ vermitteln.
Genau dieser Ansatz und diese Atmosphäre machen diesen Film so bedrückend und aktuell: nicht nur zeigt Geschonneck die „Banalität“ der Verbrechen – jedenfalls vom Standpunkt der Nazis selbst –, sondern er vermittelt damit auch, ob bewusst oder nicht, einen Eindruck des Milieus und des Klimas, in dem heute auf den Chefetagen der Regierungen, Großkonzerne und Banken über das Schicksal von Millionen – sei es das Massensterben durch die Corona-Politik oder einen Krieg etwa in der Ukraine „als Chance“ – diskutiert wird.
Der Film zeigt, auf nüchterne und eben dadurch umso erschreckendere Art und Weise, wie es aussieht und wozu es führt, wenn die herrschende Klasse und die Kräfte der politischen Reaktion das politische Geschehen dominieren. Schon allein deshalb verdient er ein breites Publikum.