Die Auschwitz-Überlebende und Kämpferin gegen Faschismus Esther Bejarano ist tot

Hunderttausende trauern um die jüdische Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano, die in der Nacht auf Samstag im Alter von 96 Jahren verstorben ist. Sie war 1943 mit 18 Jahren ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt worden und überlebte die Mordmaschinerie der Nationalsozialisten nur, weil sie als Akkordeonspielerin ins Mädchenorchester von Auschwitz aufgenommen wurde.

Die mutige Zeitzeugin mit den kleinen wachen Augen und der eindringlichen Stimme hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, das Schweigen über die Verbrechen der Nazis zu durchbrechen und gegen die Rückkehr von Faschismus und Krieg anzukämpfen.

Wenn sie bis zu ihrem Tod vor dem wachsenden Rechtsruck warnte, an Schulen auftrat und Jugendliche über die Schrecken des Nazi-Regimes aufklärte oder auf Konzerten mit der Rapband „Microphone Mafia“ antifaschistische Lieder sang, hatte sie immer ein Ziel vor Augen: Nie wieder!

„Die Vergangenheit und die Gegenwart. Das muss man zusammen sehen. Das verstehen die Schüler und sie fragen mich immer: Was können wir tun? Was sollen wir machen? Ich sage ihnen: Vor allem darf man nicht schweigen und man muss aufstehen gegen diese rechtslastigen Parteien“, betonte Bejarano 2018 im Interview mit Sven Wurm, dem Sprecher der International Youth and Students for Social Equality (IYSSE). Sie zeigte sich entsetzt über den Aufstieg der AfD und das erneute Auftrumpfen des deutschen Imperialismus.

„Auschwitz und heute“: Ein Interview mit Esther Bejarano


Geboren 1924 als Esther Loewy, wuchs sie mit drei Geschwistern in einer liberalen jüdischen Familie im Saarland auf. Ihr Vater, Kantor in einer Synagoge und Veteran des Ersten Weltkriegs, und ihre Mutter, eine Lehrerin, weckten in Bejarano schon früh die Liebe zur Musik. Sie lernte Klavier und sang bei Auftritten im Jüdischen Kulturbund.

Im Alter von zehn Jahren erlebte sie, wie sich die Judenverfolgung nach der Wiedereingliederung des Saargebiets ins Deutsche Reich 1935 und der Einführung der Nürnberger Rassegesetze von Jahr zu Jahr verschärfte. Ihre beiden ältesten Geschwister konnten 1937 Deutschland noch verlassen, aber der Rest der Familie bemühte sich vergebens um eine Auswanderung.

Während der Vater nach Breslau versetzt wurde, ging Bejarano erst nach Berlin, dann nach Brandenburg, wo sie ab Juni 1941 Zwangsarbeit in einem Fleurop-Blumenladen leisten musste. Wie sie erst nach dem Krieg erfuhr, wurden ihre Eltern im selben Jahr deportiert und von den Nazis in einem Wald im litauischen Kaunas erschossen. Ihre Schwester wurde im Dezember 1942 in Auschwitz ermordet – ein halbes Jahr bevor auch Esther in das Todeslager kam.

Dort schaffte sie es, ins sogenannte Mädchenorchester von Auschwitz zu gelangen. „Das war mein Glück“, erinnerte sich Bejarano. „Ich musste vorher ganz schwere Arbeit machen. Steine schleppen. Ich war schon fertig. Körperlich ging’s mir ganz schlecht. Und dann habe ich gehört, dass man nach Frauen sucht, die ein Instrument spielen können.“

Als Klavierspielerin wurde sie zwar nicht genommen, aber sie brachte sich kurzerhand das Akkordeon bei. Bejarano spielte ein halbes Jahr im Mädchenorchester, das im Juni 1943 auf Befehl der SS von der polnischen Musiklehrerin und Gefangenen Zofia Czajkowska zusammengestellt und dirigiert wurde. Später übernahm die österreichische Violinistin Alma Rosé die Leitung, eine Nichte des Komponisten Gustav Mahler, die 1944 im Lager starb.

Die Musikerinnen aus ganz Europa wurden gezwungen, beim Ein- und Ausmarsch der Arbeitskolonnen zu spielen und Privatkonzerte für SS-Offiziere zu geben. Laut Bejarano hat das Orchester auch an der Todesrampe gespielt, wo die neu Angekommenen selektiert und ältere Menschen, Kinder und Schwangere in die Gaskammer geschickt wurden. „Sie haben gedacht: Wo Musik spielt, da kann’s wohl nicht so schlimm sein. Das war die Taktik der Nazis,“ so Bejarano in einem Video-Interview mit der ARD.

Als Ende 1943 sogenannte „Mischlinge“ im Lager ausgesondert wurden, ergriff Bejarano ihre Chance und verwies auf ihre „arische“ Großmutter. Sie wurde daraufhin aus Auschwitz ins Brandenburger Konzentrationslager Ravensbrück verlegt und musste dort Zwangsarbeit für Siemens verrichten.

Mit dem Vorrücken der Alliierten im Frühjahr 1945 lösten die Nazis die frontnahen KZs auf und trieben die Häftlinge auf langen Todesmärschen unter brutaler Kontrolle der SS ins Landesinnere, unter ihnen war auch Bejarano. „Alle die hingefallen sind, die nicht mehr ganz schnell aufstehen konnten, haben sie einfach abgeknallt,“ erzählt sie. Erst nachdem die Offiziere den Befehl erhalten hatten, nicht mehr zu schießen, wagte sie mit einigen Mitgefangenen die Flucht.

In ihren Erinnerungen beschreibt sie in bewegenden Worten, wie sie die Befreiung und den Einmarsch der Roten Armee im Mai 1945 im mecklenburgischen Lübz erlebte:

Die amerikanischen und die russischen Soldaten begrüßten, umarmten und küssten sich. Alle waren glücklich, dass der Krieg nun endlich beendet war. Ein russischer Soldat brachte ein riesengroßes Bild von Adolf Hitler und stellte es mitten auf den Marktplatz. Ein anderer russischer Soldat rief: „Musik, wer macht Musik?“ Ich nahm das Akkordeon und ging auf den Marktplatz. Alle stellten sich rund um das Bild. Ein amerikanischer und ein russischer Soldat zündeten es gemeinsam an. Adolf Hitlers Bild brannte lichterloh. Die Soldaten und die Menschen aus dem KZ tanzten um das Bild herum. Und ich spielte Akkordeon. Dieses Bild werde ich nie vergessen. Das war meine Befreiung vom Hitler-Faschismus und ich sage immer: „Es war nicht nur meine Befreiung, es war meine zweite Geburt.“

Sie verbrachte einige Wochen erst im „Displaced Persons Camp“ im ehemaligen KZ Bergen-Belsen bei Hannover, dann im Geringshof bei Fulda, einem Vorbereitungsort für jüdische Auswanderer. Im August 1945 reiste sie schließlich über Marseille nach Palästina aus. Dort studierte sie Gesang, wurde Opern- und Chorsängerin, heiratete den Lastwagenfahrer Nissim Bejarano und gründete eine Familie. Doch nach 15 Jahren kehrte sie Israel den Rücken, abgestoßen von der Kriegspolitik und Unterdrückung der Palästinenser durch die israelische Regierung.

Im Gespräch mit der IYSSE verwehrte sich Bejarano gegen heutige Versuche der Politik und Medien, Kritik an Israel und Zionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen. Sie prangerte die unmenschliche Politik Israels an und erklärte: „Ich bin dagegen. Und warum bin ich dann eine Antisemitin, wenn ich gegen die Politik in Israel spreche? Das ist doch absurd.“

Bejarano lebte ab 1960 mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Hamburg, wo sie eine Wäscherei und dann eine Boutique eröffnete. Nach dem Krieg schwieg sie lange Zeit über ihre Erfahrungen im Nationalsozialismus. Als sie aber direkt mit aggressiven Neonazis der NPD konfrontiert war, die von der Polizei geschützt wurden, beschloss sie, selbst aktiv zu werden.

Seitdem warnte Bejarano unermüdlich davor, dass rechtsradikale Kräfte wieder an Einfluss gewinnen. Mit starker Stimme trat sie in den letzten Jahren gegen den wachsenden Rechtsruck und die Kriegsentwicklung auf. Sie engagierte sich im Internationalen Auschwitz-Komitee und als Ehrenvorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA). 2019 protestierte sie mit einem wütenden offenen Brief an Finanzminister Olaf Scholz (SPD) dagegen, dass dem antifaschistischen Verein VVN-BdA der Status der Gemeinnützigkeit entzogen worden war.

Zuletzt forderte Bejarano, dass der Tag der Befreiung am 8. Mai als gesetzlicher Feiertag anerkannt wird. Sie wies immer wieder darauf hin, dass es in der Bundesrepublik nie eine Stunde Null gab und die Nazi-Seilschaften ungehindert fortwirken konnten.

In ihrer letzten öffentlichen Rede am 3. Mai 2021 erklärte sie: „Diese Kontinuitäten und der aggressive Antikommunismus sind auch Ursachen für die heute fast täglich bekannt werdenden rassistischen und antisemitischen Vorfälle in den Sicherheitsbehörden. Es ist beschämend, dass heute noch neofaschistische Netzwerke in diesen Strukturen existieren können.“

Doch wie Bejarano im Gespräch mit Sven Wurm betonte: „Von der Regierung haben wir nichts zu erwarten, deshalb muss die Bevölkerung selbst etwas dagegen tun.“ Sie setze alle ihre Hoffnungen auf die Jugend. Immer wieder appellierte Bejarano an die jungen Menschen, die jetzt an der Reihe sind, einen Rückfall in die Barbarei zu verhindern und für eine fortschrittliche Zukunft einzutreten. Mit ihrem unerschöpflichen Elan, ihrer Entschlossenheit und Lebensfreude ist und bleibt Esther Bejarano eine Inspiration in den kommenden Kämpfen.

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