Am Freitag veröffentlichte das Nachrichtenportal Politico im vollen Wortlaut den Entwurf eines Dekret aus der Feder von Donald Trumps Anwälten. Darin war vorgesehen, im ganzen Land die Armee und die Nationalgarde einzusetzen, um Wahlautomaten und damit Millionen Stimmen aus den Präsidentschaftswahlen 2020 zu beschlagnahmen.
Wenn man den Entwurf im Einzelnen analysiert, erweist er sich als Fahrplan für eine Präsidialdiktatur. Mit der Umsetzung des Dekrets wären der Ausnahmezustand verhängt, die demokratischen Rechte außer Kraft gesetzt, die Wähler entrechtet und das gesamte Land unter Militärherrschaft gestellt worden.
Der Entwurf trägt den Titel „Feststellungen des Präsidenten zur Sicherstellung, Sammlung und Auswertung von Informationen mit Bezug auf die nationale Sicherheit hinsichtlich der Wahlen 2020“. Sein Ausgangspunkt ist die Lüge, dass die Wahl 2020 von Joe Biden und „feindlichen ausländischen Kräften“ gestohlen wurde. Millionen Stimmen seien mithilfe der Hersteller von Wahlautomaten, z. B. Dominion Voting Systems, zugunsten Bidens gefälscht worden.
Unter Berufung auf „Beweise für eine internationale und ausländische Einmischung in die Wahlen vom 3. November 2020“ sollte das Militär angewiesen werden, im gesamten Land „sofort alle Maschinen, Geräte, elektronisch gespeicherten Informationen und wesentlichen Aufzeichnungen“ im Zusammenhang mit der Wahl „zu beschlagnahmen, einzusammeln, sicherzustellen und auszuwerten“. Der demokratische Grundsatz, dass das Militär keine Strafverfolgung im Inland durchführen darf, wäre damit durchbrochen worden. Anschließend sollte die Armee eingesetzt werden, um soziale Proteste niederzuschlagen und Gegner zu verhaften.
Trump und seine Berater rechneten damit, dass Gouverneure, die den Demokraten angehören, die Nationalgarde einsetzen könnten, um die Wählerstimmen zu schützen. Daher sollte laut dem amtierenden Verteidigungsminister Christopher Miller die Befugnis erteilt werden, die Nationalgarde „nach Namen oder Einheiten“ der Befehlsgewalt der Zentralregierung zu unterstellen. Demnach sollte Trump in Staaten mit demokratischen Gouverneuren die Kontrolle über die Nationalgarde oder ihm treu ergebene Einheiten übernehmen.
Der damalige Geheimdienstchef (Director of National Intelligence) John Ratcliff, ein stramm rechter Trump-Getreuer, sollte beauftragt werden, innerhalb von sieben Tagen nach Erlass des Dekrets zu beurteilen, ob die Wahl gestohlen wurde – eine Bewertung, die zu Trumps gewünschtem Ergebnis führen würde.
Dieser Befund sollte dann als abschließende Bewertung „der Geheimdienste“ präsentiert werden. Daraufhin wäre ein Sonderbeauftragter eingesetzt worden, um „diese Operation zu überwachen und alle straf- und zivilrechtlichen Verfahren einzuleiten, die auf der Grundlage der gesammelten Beweise geboten sind, und alle erforderlichen Ressourcen bereitzustellen“, um gegen Trumps Gegner vorzugehen. Dies wäre der rechtswidrige Mechanismus gewesen, den Trump eingesetzt hätte, um Parlamentarier der Demokraten und politische Gegner unter dem Vorwurf der Volksverhetzung und des Hochverrats strafrechtlich zu verfolgen, hinter Gitter zu bringen oder hinzurichten. Da eine Einmischung des Auslands in die Wahlen unterstellt wurde, wäre die Unterdrückung der inländischen Opposition wahrscheinlich mit militärischen Abenteuern im Ausland kombiniert worden.
Als rechtliche Grundlage für diese außerordentlichen Maßnahmen werden im Dekretentwurf Anordnungen und Gesetze angeführt, die dem Präsidenten und den Geheimdiensten diktatorische Befugnisse im Rahmen eines Ausnahmezustands einräumen.
Dabei wird auf die Executive Order 12333 verwiesen, ein Dekret aus der Reagan-Ära, das der Exekutive nahezu unbegrenzte Vollmachten zur Bespitzelung der Bevölkerung einräumte. Die Executive Order 12333 diente als Grundlage für die von Edward Snowden aufgedeckte Massenüberwachung durch die National Security Agency (NSA). Des Weiteren wird auf das National Security Presidential Memo 13 verwiesen. Dabei handelt es sich um ein als geheim eingestuftes Memorandum (dessen genauer Inhalt nicht bekannt ist), das dem Militär die Befugnis verleiht, Cyber-Kriegsoperationen ohne vorherige Genehmigung durchzuführen. Außerdem wird das National Security Presidential Memo 21 genannt, das so geheim ist, dass über seine Existenz „nicht öffentlich berichtet wurde“, so Politico. Der Verweis auf diese Memos lässt erkennen, dass Trump das Pentagon anweisen wollte, das Internet und/oder Fernsehsender abzuschalten oder zu zensieren.
Als Rechtsgrundlage werden zwei Notstandsgesetze angeführt: der National Emergencies Act (NEA) und der International Emergency Economic Powers Act (IEEPA). Der NEA erlaubt es dem Präsidenten, den nationalen Notstand auszurufen und die Exekutivgewalt auszuüben, ohne einer weiteren Kontrolle zu unterstehen. Dieses Gesetz diente als pseudo-legale Grundlage für die als „Rex-84“ bekannt gewordenen Bürgerkriegspläne der Reagan-Regierung, bei denen die Verfassung außer Kraft gesetzt und „Subversive“ unbefristet inhaftiert worden wären. Der IEEPA verleiht dem Präsidenten die Befugnis, als Reaktion auf eine „ungewöhnliche und außergewöhnliche Bedrohung der nationalen Sicherheit“ den nationalen Notstand auszurufen und das Vermögen von Personen und Organisationen, die nach Ansicht des Präsidenten an dieser Bedrohung beteiligt sind, zu beschlagnahmen.
Mit der Veröffentlichung des Dekretentwurfs wird deutlicher, welche Strategie Trump im Zeitraum 3. November 2020 bis 6. Januar 2021 verfolgte. Der Entwurf ist auf den 16. Dezember 2020 datiert. Zwei Tage zuvor, am 14. Dezember, traten in den Hauptstädten der Bundesstaaten die Wahlleute zusammen, um ihre Stimmen für den Kandidaten abzugeben, der in ihrem Bundesstaat die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte. (Diese Stimmen werden nach Washington gemeldet und am 6. Januar zur offiziellen Wahl des Präsidenten ausgezählt).
Wie CNN letzte Woche berichtete, wurde in sieben umkämpften Bundesstaaten unter der Leitung von Rudy Giuliani versucht, die republikanischen Abgeordneten dazu zu bringen, „alternative“ Listen von Wahlleuten zugunsten Trumps zu beschließen. „Giuliani und seine Verbündeten koordinierten die Einzelheiten des Prozesses auf Ebene der einzelnen Bundesstaaten“, berichtete CNN unter Berufung auf eine Quelle, der zufolge es „mehrere Planungstelefonate zwischen Vertretern der Trump-Kampagne und Aktivisten der Republikanischen Partei gab“. Trump „schlug Unterstützer vor, um die Listenplätze der Wahlleute zu besetzen, reservierte in Regierungsgebäuden Sitzungsräume für diese Fake-Wahlleute, die am 14. Dezember 2020 zusammentreten sollten, und brachte Entwürfe für gefälschte Urkunden in Umlauf, die schließlich an das Nationalarchive geschickt wurden“.
Als die Parlamente der betreffenden Bundesstaaten am 14. Dezember entgegen diesen Planungen keine „alternativen Wahlleute-Listen“ wählten, griff das Trump-Lager auf seine nächsten Optionen zurück. Die extremste dieser Optionen war eben das jetzt bekannt gewordene Dekret über die Beschlagnahme von Wahlmaschinen. Es wurde nur deshalb nicht in Kraft gesetzt, weil sich die Putschisten der Unterstützung durch das Militär nicht sicher waren.
Mit diesem Dekret in der Hinterhand gingen Trump und seine Berater daran, die Bestätigung der Wahl Bidens durch das Wahlleutegremium in Washington am 6. Januar zu stören. Ihr Plan sah drei mögliche Wege zum Erfolg vor.
Erstens: Vizepräsident Mike Pence könnte für die Staaten, in denen Biden gesiegt hatte, die legitimen Listen der Wahlleute ablehnen. Zweitens: Der Oberste Gerichtshof könnte eingreifen, um die Bestätigung der Wahl hinauszuzögern. Zu diesem Zweck reichte Trump-Anwältin Sidney Powell am 5. Januar 2021 bei Richter Samuel Alito einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ein, mit der das Verfahren am 6. Januar aufgrund einer juristischen Formalität ausgesetzt werden sollte. Drittens: Durch ein abgestimmtes Vorgehen von republikanischen Abgeordneten und Demonstranten könnte die Bestätigung des Wahlmännerkollegiums über den 6. Januar hinaus verzögert werden. Alle drei Szenarien würden zu einer Verzögerung führen, in deren Folge sich die Wahl ins Repräsentantenhaus verlagern würde. Dort hätten dann die Delegationen aller Bundesstaaten je eine Stimme und die Republikaner die Mehrheit.
Am 6. Januar 2021 waren alle drei Szenarien im Spiel. Das erste Szenario scheiterte, weil Pence sich weigerte, Trumps Plan zu unterstützen, und erklärte, er werde die rechtmäßigen Listen der Wahlleute bestätigen. Das zweite Szenario war keineswegs aussichtslos und hätte nur der Unterstützung eines einzigen Richters bedurft, nämlich des von Bush ernannten Reaktionärs Alito.
In der Tat zögerte Alito am 5. und 6. Januar seine Entscheidung hinaus und weigerte sich, Powells Antrag auf einen Aufschub der Bestätigung Bidens abzulehnen. Powell selbst räumte später ein, dass die Entscheidung der Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi, das Plenum am Abend des 6. Januar erneut einzuberufen, durch die Verschleppungstaktik Alitos erzwungen war. Es handelte sich nicht um einen rein symbolischen Schritt, wie es die Medien darstellten. „Sie wurde benachrichtigt, als wir unseren Antrag gestellt hatten“, sagte Powell. „Sie musste die Wiedereinberufung des Kongresses vorziehen, damit die Abstimmung beginnen konnte, bevor Richter Alito womöglich eine einstweilige Verfügung erlassen konnte.“ Erst am Morgen des 7. Januar, nachdem der Staatsstreich eindeutig gescheitert war, lehnte Alito Powells Antrag formell ab.
Das dritte Szenario, d. h. eine Verzögerung der Abstimmung in Kombination mit einer gewaltsamen Demonstration, wurde vor den Augen der Öffentlichkeit umgesetzt und hätte um Haaresbreite Erfolg gehabt. Der Mob, der von bewaffneten Sturmtrupps der faschistischen Oath Keepers angeführt wurde, war bereit, Parlamentarier der Demokraten zu entführen und die Bestätigung Bidens mit Gewalt zu verhindern. Dieser Plan scheiterte allein an operativen Mängeln. Pence und die Demokraten im Kongress entkamen den Angreifern um wenige Sekunden, höchstens Minuten. Die Demokratische Partei unternahm deshalb nichts gegen den Versuch, eine Diktatur zu errichten, weil sie befürchtete, dass eine entsprechende Warnung an die Bevölkerung zu massiven sozialen Unruhen im ganzen Land führen würde.
Der 6. Januar hat die tiefe Fäulnis des politischen Systems in Amerika offengelegt. In einer von Ungleichheit zerrissenen Gesellschaft kann die Demokratie keinen Bestand haben. Wenn die Ressourcen des Landes von einer kleinen Finanzaristokratie gehortet werden, die das politische System und die beiden rechten Parteien kontrolliert, kann es keine demokratischen Verhältnisse geben. In den letzten dreißig Jahren, in denen die USA unaufhörlich Krieg führten, wurde das politische Klima derart vergiftet, dass faschistisches Gesindel wie Trump und seine Berater an die Spitze der Staatsmacht gelangen konnten. Ihr Komplott vom 6. Januar ist gescheitert, doch die Verschwörer werden nun ihre nächsten Schritte planen. Um die Demokratie gegen die drohende Diktatur zu verteidigen, muss die internationale Arbeiterklasse dringend gegen die Quelle des Faschismus angehen: das kapitalistische System.