Dies ist der erste Teil einer zweiteiligen Serie.
Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij am 23. März zu seiner Rede vor dem US-Kongress ansetzte, rief Nancy Pelosi, Sprecherin des Repräsentantenhauses, den Slogan: „Slawa Ukraini!“ (Ruhm der Ukraine) nicht weniger als fünf Mal.
Dieser Slogan ist derzeit in London, Washington und anderen Hauptstädten populär. Auch der britische Premierminister Boris Johnson rief ihn bei einer Sitzung im Unterhaus aus und nutzte ihn auf Twitter.
US-Präsident Joe Biden führt ihn bisher noch nicht im Munde, behauptet jedoch ständig, die Waffenlieferungen an die Ukraine dienten der Verteidigung der „Freiheit“ und der „Würde“ dieses Landes. Diese Waffen im Wert von einer Milliarde Dollar würden dazu ausreichen, dass jeder Bürger jeden anderen mehrfach töten könnte.
Der Ursprung des Slogans „Slawa Ukraini“ sagt einiges aus über die tatsächliche Haltung der USA und der Nato gegenüber der ukrainischen Bevölkerung, zu der Arbeiter aller Ethnien und Sprachgruppen – Russen, Ukrainern, Juden, Polen, etc. – gehören. Wie der Biograf Grzegorz Rossolinski-Liebe in seinem Buch über den ukrainischen Faschistenführer Stepan Bandera erklärt, gehörte „Slawa Ukraini“ zum Gruß der Organisation Ukrainischer Nationalisten und ihres militärischen Arms, der Ukrainischen Aufständischen Armee. Sie waren im Zweiten Weltkrieg für die Ermordung von zehntausenden Sowjetbürgern, Juden und Polen verantwortlich.
Weder die USA, noch die EU, noch eine der mit ihnen verbundenen Institutionen hat sich je für die Bevölkerung der Ukraine oder ihre Freiheit interessiert. Obwohl sie das Land als Köder für ihre Konfrontation mit Russland nutzen – und in dem Zusammenhang den ukrainischen Faschisten riesige Mengen von Waffen zukommen lassen – haben die USA und die EU die ukrainische Bevölkerung seit Jahrzehnten wirtschaftlich stranguliert.
Gemessen am Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt ist die Ukraine mit ihren 44,13 Millionen Einwohnern das ärmste oder zweitärmste Land Europas und konkurriert mit Moldau, einem Land mit 2,6 Millionen Einwohnern, um diesen unrühmlichen Titel.
Die ärmere Hälfte der ukrainischen Bevölkerung besitzt nur 22,6 Prozent des Gesamteinkommens und 5,7 Prozent des Vermögens. Die obersten zehn Prozent besitzen fast 60 Prozent des persönlichen Nettovermögens. Diese Zahlen gehen auf die World Inequality Database zurück, die unter der Leitung der drei weltweit führenden Spezialisten für Ungleichheit erstellt wird: Thomas Piketty, Emmanuel Saez und Gabriel Zucman. Im Jahr 2018 lagen die durchschnittlichen Ersparnisse eines ukrainischen Haushalts bei minus 245 Dollar.
Das Median-Haushaltseinkommen in der Ukraine liegt bei etwa 4.400 Dollar pro Jahr und ist damit vergleichbar mit dem Iran, dessen Wirtschaft seit Jahren unter vernichtenden Sanktionen leidet. Der Durchschnittslohn in der Ukraine wird auf nur 330 Euro pro Monat geschätzt. Der staatlich festgelegte Mindestlohn liegt bei 144 Euro. Laut der ukrainischen Regierung sollte ein Einzelner in der Lage sein, mit weniger als der Hälfte dieser Summe zu überleben, denn das Existenzminimum liegt bei nur 64 Euro. Rentner mit den niedrigsten Renten erhalten nur 50 Euro im Monat.
Laut dem ukrainischen Institut für Soziologie gibt die typische ukrainische Familie 47 Prozent des Gesamteinkommens für Nahrung und 32 Prozent für Strom, Wasser und Gas aus. Im Jahr 2016 galten fast 60 Prozent der Bevölkerung nach den Standards der Regierung als arm, darunter 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen. Diese Armutsquote ist bis 2019 auf „nur“ 37,8 Prozent gesunken. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen stellte im Jahr 2020 fest, dass 15,9 Prozent der ukrainischen Kinder unter fünf Jahren unterernährt waren. Im Jahr 2019 litten 17,7 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter unter Blutarmut, weil ihre Ernährung zu wenig Eisen enthielt. Diese Zahl hat sich seit 2004 ständig erhöht. 24 Prozent der Bevölkerung sind stark übergewichtig.
Die Geburtenrate ist zwischen 2014 und 2019 um 19,4 Prozent gesunken. Die Sterblichkeitsrate liegt mit 14,7 pro 1.000 Einwohner extrem hoch. Sie liegt deutlich über derjenigen vieler Länder Afrikas, des weltärmsten Kontinents. Die Selbstmordrate ist laut Weltbank die elfhöchste der Welt. Da die Zahl der Todesfälle mehr als doppelt so hoch liegt wie diejenige der Geburten, und jedes Jahr Hunderttausende auswandern, geht die Bevölkerungszahl seit 1993 jedes Jahr weiter zurück. Heute leben in der Ukraine acht Millionen weniger Menschen als noch vor 30 Jahren.
Die Liste ließe sich fortsetzen. Abgesehen von den Superreichen und einer kleinen Schicht von Kleinbürgern und oberer Mittelschicht, die sich auf die Großstädte konzentriert, ist die Ukraine ein Ozean der Not.
Das ist ein direktes Ergebnis der Wirtschaftspolitik, die dem Land von genau den Staaten aufgezwungen wurde, die heute demonstrativ ihre Liebe zur Ukraine erklären. Die unmittelbare Ursache für die heutige Misere ist mit dem Putsch von 2014 verknüpft, der mit aktiver Unterstützung der USA und der EU in Kiew eine neue Regierung an die Macht brachte. Diese unterzeichnete sofort ein Assoziationsabkommen mit der EU, das sie zu strengen Sparmaßnahmen verpflichtete. Doch die wirklichen Ursachen liegen noch tiefer.
Die soziale und wirtschaftliche Katastrophe in der Ukraine geht auf Ende 1991 zurück, als die stalinistische Bürokratie die Sowjetunion auflöste und den Kapitalismus wiedereinführte. In der Folge wurden die neuen, unabhängigen Nationalstaaten in die globalen Finanz- und Handelsnetze eingebunden.
Eine Reihe von Maßnahmen, bekannt als „Schocktherapie“, wurde durchgesetzt. Sie waren in enger Zusammenarbeit mit westlichen Beratern ausgearbeitet worden und sorgten dafür, dass das Staatseigentum in private Hände geriet. Ehemalige KP-Funktionäre und ihre Kinder, Verwalter und Direktoren der großen sowjetischen Industriebetriebe und kriminelle Elemente aus der Schattenwirtschaft profitierten auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung, indem sie sich am Ausverkauf sowjetischer Ressourcen und durch offenen Diebstahl bereicherten.
In der Ukraine gingen aus dieser Abwrackoperation konkurrierende Fraktionen des Großkapitals hervor, deren Schwerpunkte in Donezk im Osten und in Dnipropetrowsk im Westen lagen. Die Hauptquellen ihres Reichtums waren Kohlebergbau und -verarbeitung, die Gewinnung und Weiterleitung von Energie und Metallurgie. Aber auch Banken- und Medienkonzerne entstanden, und neue Profitquellen wurden bald bei Verbrauchsgütern und in der Landwirtschaft erschlossen.
Seit dieser Zeit wuchs die Zahl der ukrainischen Milliardäre. Einige von ihnen sind Wiktor Pintschuk (Nettovermögen umgerechnet 1,9 Milliarden Dollar), Renat Achmetow (7,6 Milliarden Dollar), Igor Kolomoyski (1,8 Milliarden Dollar), Genadi Bogoljubow (1,1 Milliarden Dollar), Petro Poroschenko (1,6 Milliarden Dollar) und Wadim Nowinski (1,4 Milliarden Dollar). Jahrzehntelang war die ukrainische Politik von Konflikten, Bündnissen, Bündnisbrüchen und Kämpfen zwischen diesen Milliardären dominiert. Die zentrale Frage war, ob das Land engere Wirtschaftsbeziehungen zu Europa aufbauen oder seine starken Beziehungen zu Russland erhalten oder beides gleichzeitig tun sollte. Diese Kämpfe verschärften sich, als die geopolitischen Spannungen zwischen Washington und Moskau zunahmen, in denen die Ukraine eine zentrale Rolle spielt.
In den 1990ern befand sich die ukrainische Wirtschaft im freien Fall, obwohl an einem Ende des Spektrums immense Summen angehäuft wurden. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt ging zwischen 1993 und 1999 um 8,4 Prozent zurück, und die Wirtschaft gehörte zu den schwächsten in ganz Europa. Die Inflation geriet zeitweise völlig außer Kontrolle. Im Jahr 1995 erreichte sie einen Höchststand von etwa 376 Prozent, wodurch bereits sehr früh im Prozess der Wiedereinführung der Marktwirtschaft die Ersparnisse und die Kaufkraft der ukrainischen Arbeiter vernichtet wurden.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Die Volkswirtschaftlerin Julia Jurtschenko schrieb im Jahr 2018 in ihrem Buch „Die Ukraine und das Imperium des Kapitals“: „Viele junge Menschen schlossen sich in den 1990ern aus Mangel an Alternativen kriminellen Banden an und wurden von diesen als Schachfiguren bei der Anhäufung von Profiten benutzt.“ Die Kämpfe zwischen konkurrierenden Unternehmerclans führten nicht selten zu Todesopfern. Der Anstieg der Verbrechensrate in der Ukraine um das Zweieinhalbfache zwischen 1988 und 1997 ging größtenteils auf „verschiedene Formen von Diebstahl, Raub, Schwindel und Erpressung, Bestechung, Falschgeldproduktion und Drogenhandel“ zurück.
In diesem Zeitraum erhielt die Ukraine zehn Darlehen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Das war der Beginn eines fast durchgängigen Prozesses von Anleihen bei internationalen Finanzinstituten während der 2000er- und 2010er-Jahre. Die Bedingungen dieser Darlehen basierten auf einem „Memorandum zu Fragen von Wirtschaftspolitik und Strategie“ von 1994, das von der Ukraine und dem IWF unterzeichnet wurde und laut Jurtschenko „faktisch die Entscheidungsbefugnisse der ukrainischen Regierung beschnitt“.
Abkommen mit anderen internationalen Finanzinstituten wie der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung führten zu ähnlichen Beschränkungen, da sie auf dem Prinzip der gegenseitigen Konditionalität basierten, d.h. die Gläubiger setzen Bedingungen fest, die sich überschneiden und einander verstärken. Die Schlinge um den Hals der Empfänger solcher Darlehen zieht sich also gleich mehrfach zusammen.
Die Gläubiger forderten von der Regierung in Kiew die Abschaffung von Maßnahmen, die Hindernisse für den Außenhandel darstellten. Dazu gehörte die Abschaffung der Preisregulierung, Senkung des Haushaltsdefizits, Abbau von Subventionen für „unproduktive“ Industriezweige, die Modernisierung von Werken und die Entlassung von Arbeitern, um die Industrie wettbewerbsfähiger zu machen, die weitere Privatisierung von Staatseigentum, Ausgabenkürzungen bei Sozialprogrammen und Renten sowie die Einführung von Mehrwertsteuern, damit die Steuereinnahmen eher zu Lasten der Verbraucher als zu Lasten der Unternehmen gingen.
Diese Prozesse wurden forciert oder gedrosselt, je nachdem, ob die Regierung in Kiew eher auf der Seite der USA oder Russlands stand. Allerdings waren alle ukrainischen Regierungen Partner bei der Umsetzung der Forderungen des globalen Kapitals. Die herrschende Klasse, die beim Verheizen der Sowjetunion aus der Asche der großen Grillparty aufgestiegen ist, hat sich in der Ukraine als wahre Kompradorenklasse erwiesen.
Beispiele dafür gibt es zu Hauf: Im Jahr 1998 hat das ukrainische Parlament Präsident Leonid Kuchma die Befugnis erteilt, die Staatsausgaben um 30 Prozent zu senken, weil der IWF es so angeordnet hatte. Die Financial Times schrieb im August 1998: „Abgesehen von der Erfüllung finanz- und währungspolitischer Ziele, muss die Regierung auch Gesetze zu Privatisierung, Steuerreform, der Umstrukturierung des Energie- und Landwirtschaftssektors erlassen und ihre massive ,Schattenwirtschaft‘ loswerden.“
Jurtschenko schreibt: „Die Reformen führten zu negativen Effekten auf die Wirtschaft, die sich gegenseitig noch verstärkten. Sie öffneten eine veraltete Industrie dem Wettbewerb mit ausländischen transnationalen Konzernen, während die staatliche finanzielle Unterstützung für Unternehmen und Bürger gekürzt wurde. Damit wurden die Letzteren ärmer und die Ersteren noch weniger wettbewerbsfähig, mit einem zu erwartenden negativen Gesamtverbrauch und einem potenziellen Rückgang der Einnahmen.“
Die Verschuldung der Ukraine stieg in den kommenden Jahren immer weiter an, von zehn Milliarden Dollar im Zeitraum von 1997–2002 auf 100 Milliarden Dollar in den Jahren 2008–2009. Das entsprach mehr als 56 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Landes und war mehr als doppelt so viel wie der Gesamtwert aller Exporte in dieser Zeit. In den letzten Jahren schwankte die Verschuldung zwar, liegt aber im Grunde noch auf der gleichen Höhe wie vor zehn Jahren. Deshalb befindet sich die Ukraine in einem ewigen Kreislauf der Verschuldung und bewegt sich zeitweise aufgrund größerer Krisen der Weltwirtschaft wie dem Crash von 2008–2009 am Rande des Staatsbankrotts.
Wird fortgesetzt.