Bei einem russischen Bombenangriff auf Charkiw (Charkow) wurde Boris Romantschenko (96) getötet, der vier Nazi-Konzentrationslager überlebt hatte. Nach Angaben seiner Enkelin ist sein Körper zusammen mit seiner Wohnung bei dem Angriff vollständig verbrannt. Er wurde am 24. März in Charkiw beigesetzt.
Romantschenko ist nun einer der vielen Zivilisten, die seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine vor knapp fünf Wochen getötet worden sind.
Die etwa 42.000 Überlebenden des Nationalsozialismus in der Ukraine haben die extremsten traumatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts erlitten. Und heute befinden sie sich wieder inmitten eines weiteren schrecklichen Kriegs. Die meisten von ihnen sind zu schwach und krank, um sich in Bunkern in Sicherheit zu bringen. Romantschenko hatte seine Wohnung schon vor Kriegsausbruch monatelang nicht mehr verlassen, weil er eine Infektion mit Covid-19 befürchtete.
Romantschenko wurde in einer Bauernfamilie in der Ostukraine, in der Region Tschernigow, geboren, die damals zur Sowjetunion gehörte. Seine Familie überlebte nur knapp die schreckliche Hungersnot von 1932–1933, die Stalin mit seiner verbrecherischen Zwangskollektivierung verursacht hatte.
Am 22. Juni 1941 marschierten die Nazis in die Sowjetunion ein und eroberten schnell große Teile des heutigen Weißrusslands, des Baltikums und der Ukraine. In den folgenden vier Jahren forderte der Krieg der Faschisten den Tod von schätzungsweise 27 Millionen Sowjetbürgern. Unter ihnen waren mindestens fünf Millionen Ukrainer, darunter fast 1,5 Millionen ukrainische Juden.
1942 wurde Romantschenko, damals 16-jährig, von den Nazis als Zwangsarbeiter nach Dortmund deportiert, um in einem Kohlebergwerk zu arbeiten. Später erinnerte er sich: „Sie [die Nazis] stellten Listen mit allen Jungs und Männern im Alter von 16 bis 60 Jahren zusammen und schickten nach und nach alle nach Deutschland, um zu verhindern, dass sie sich der Partisanenbewegung anschlössen.“
Diese Massendeportationen sollten nicht nur den wachsenden Widerstand der Bevölkerung brechen, sondern auch den dramatischen Arbeitskräftemangel in der deutschen Kriegswirtschaft beheben. In Deutschland wurden die Deportierten gezwungen, Sklavenarbeit für die NS-Kriegswirtschaft zu leisten, entweder direkt für deutsche Unternehmen oder in den Konzentrationslagern, die oft der Armee oder einem bestimmten deutschen Konzern zugeordnet waren. Auf dem Höhepunkt im Jahr 1944 umfasste diese gigantische Sklavenarbeitsmaschinerie nach zeitgenössischen Schätzungen 8,5 Millionen Arbeiter aus dem gesamten besetzten Europa (etwa ein Viertel aller Arbeitskräfte).
Zwischen 3 und 5,5 Millionen Menschen, darunter viele minderjährige Jugendliche wie Romantschenko, wurden aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion und Osteuropas nach Deutschland verschleppt. Die große Mehrheit von ihnen stammte aus dem Reichskommissariat Ukraine, und sie wurden abwertend als „Ostarbeiter“ bezeichnet.
Einige Tage nach Romantschenkos Ankunft in Dortmund sorgte ein Grubenunglück, bei dem ein Arbeiter ums Leben kam, für so viel Chaos, dass Romantschenko und einige andere die Initiative ergriffen und zu fliehen versuchten. Sie wurden jedoch gefasst und zur Strafe ins KZ geschickt.
Romantschenko wurde im Januar 1943 zunächst nach Buchenwald gebracht. Seine Erfahrung in diesem KZ beschrieb er später so: „Die Krematorien verarbeiteten eine erhöhte Last [von Leichen], weil die Ernährung so schlecht war. Die Leute bekamen nur gerade so viel, dass sie sich irgendwie bewegen konnten. Ich wog zu diesem Zeitpunkt nur noch 34,5 Kilogramm.“
Versuche zu fliehen oder Widerstand zu leisten, wurden hart bestraft. „Das Schlimmste war, als sie 80 Menschen erhängten. Man hatte Sprengstoff bei ihnen gefunden, und [als sie tot waren] legten die SS-Wachen ihre Leichen mit dem Gesicht nach oben hin, und wir mussten vorbeigehen und sie anschauen.“
Von Buchenwald wurde er in das KZ Peenemünde verlegt, das dem Heereswaffenamt angegliedert war. Hier wurden Häftlinge wie Romantschenko gezwungen, an dem Nazi-Programm zur Herstellung von V2-Raketen mitzuarbeiten.
Nach einigen Monaten wurde er erneut verlegt, und zwar in das Lager Dora-Mittelbau (auch bekannt als Nordhausen), das Teil eines riesigen Lagerkomplexes in Mitteldeutschland war. Auch dieses KZ wurde hauptsächlich für das V2-Raketenprogramm der Nazis genutzt. In Dora-Mittelbau mussten die meisten Häftlinge Schwerstarbeit unter der Erde verrichten, wobei sie nicht nur keine ausreichende Nahrung erhielten, sondern auch kein Tageslicht sahen, was das Lager zu einem der KZs mit der höchsten Sterblichkeitsrate machte. (Man schätzt, dass zwischen 12.000 und 20.000 Häftlinge dort während des Kriegs verstarben).
Kurz vor Kriegsende, im März 1945, wurde Romantschenko ein weiteres Mal verlegt, und zwar in das KZ Bergen-Belsen. Bei der Befreiung durch britische und amerikanische Truppen wog der inzwischen 19-jährige Romantschenko nicht mehr als 39 Kilogramm.
Nach dem Krieg arbeitete er zunächst für die sowjetische Militäradministration und meldete sich dann zum Dienst in der Roten Armee, die die Hauptrolle bei der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus gespielt hatte. Bis 1950 war er in Ostdeutschland stationiert.
Im Alter von 24 Jahren kehrte Romantschenko in die Sowjetukraine zurück, wurde Ingenieur und arbeitete für ein Unternehmen, das sich mit der Produktion von Agrartechnik befasste. In seinen letzten Jahrzehnten trug Romantschenko aktiv dazu bei, die Erinnerung an die Schrecken des Nationalsozialismus in der Öffentlichkeit wach zu halten. Er war der ukrainische Vertreter in der Gedenkstätte Buchenwald-Dora und sprach häufig im Fernsehen über seine Erfahrungen, wobei er sowohl seine Uniform als KZ-Häftling als auch Orden der Roten Armee trug. Er tat, was er konnte, um zu verhindern, dass sich die Schrecken von Krieg und Faschismus jemals wiederholten.
Seine Ermordung bei einem Bombenangriff hat nun bei Millionen Menschen berechtigte Empörung und Entsetzen ausgelöst. Sie spüren, dass alle ungelösten Fragen des 20. Jahrhunderts – Krieg, Faschismus und Diktatur – mit voller Wucht wieder aufleben. Es ist ein drastisches Beispiel für den verbrecherischen Charakter des Kriegs, den das Putin-Regime in der Ukraine führt.
Der Kreml nutzt die wohlbegründeten Ängste der russischen Bevölkerung vor einem weiteren Weltkrieg und Faschismus aus und versucht, seinen Einmarsch als Fortsetzung des Kampfs der Roten Armee gegen Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg hinzustellen. Aber in Wirklichkeit wird dieser Krieg von einer kapitalistischen Oligarchie geführt, die aus der Zerstörung eben jener Errungenschaften der Oktoberrevolution hervorgegangen ist. Sie steht im Widerspruch zu den sowjetischen Massen, die bis heute den Kampf gegen den Faschismus verteidigen.
Das Putin-Regime hat die skrupellose Invasion unter dem Druck des Imperialismus gestartet. Es ist verzweifelt bemüht, seine nationalen Interessen zu verteidigen und irgendwie einen Deal mit dem Imperialismus zu erreichen. In Russland selbst unterdrückt das Putin-Regime immer aggressiver jeden Ausdruck des politischen Widerstands und fördert rechtsextremen Nationalismus und Militarismus. Gleichzeitig wird die arbeitende Bevölkerung durch die Wirtschaftssanktionen in die Verelendung getrieben.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Nicht nur die Kriegsziele sind reaktionär. Aufgrund seines Charakters und der Methoden, mit denen er geführt wird, führt der Krieg zu Desorientierung, Spaltung und Verwirrung der Arbeiter, nicht nur in Russland und der Ukraine, sondern auf der ganzen Welt.
Der grausame Tod von Romantschenko ist ein typisches Beispiel dafür.
Seitdem sein Tod bekannt geworden ist, versuchen die imperialistischen Mächte und die Selenskyj-Regierung, die berechtigte Wut über den Tod Romantschenkos für finstere Zwecke auszunutzen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nutzt sie, um erneut für eine noch stärkere Einmischung der Nato in den Konflikt zu trommeln, was unmittelbar zu einem dritten Weltkrieg führen könnte.
Er sagte, Romantschenkos Tod sei ein Beispiel für den „russischen Faschismus“, der angeblich schlimmer als unter Hitler sei (der für die industrielle Tötung von sechs Millionen europäischen Juden und Dutzenden Millionen europäischer Arbeiter verantwortlich war). Dabei stützt sich Selenskyjs eigene Regierung auf neonazistische Kräfte wie das Asow-Bataillon, die offen die Nazibewegung und ukrainische Nazi-Kollaborateure verherrlichen. Sie kämpft mit Nato-Waffen gegen die russische Armee. Gleichzeitig treiben rechtsextreme paramilitärische Einheiten und Bürgerwehren in der gesamten Ukraine ihr Unwesen und terrorisieren die Bevölkerung.
Doch nirgendwo schlug der zynische Versuch, Romantschenkos Tod für imperialistische Kriegsziele zu instrumentalisieren, einen so finsteren Ton an wie in Deutschland, wo der Bundestag eine Schweigeminute für Romantschenko abhielt. Das ist dasselbe Parlament, in dem Vertreter der neofaschistischen Alternative für Deutschland (AfD) sitzen, deren Vorsitzender Alexander Gauland die Verbrechen des Nationalsozialismus öffentlich als „Vogelschiss“ verhöhnte. Dasselbe Parlament hat gerade einen Rekord-Kriegshaushalt in Höhe von 100 Milliarden Euro verabschiedet und damit die Verteidigungsausgaben verdreifacht. So etwas wagte nicht einmal Hitler vorzuschlagen, als er 1933 an die Macht kam.
Das Wiederaufleben des deutschen Militarismus ist von langer Hand vorbereitet worden. Es wird von einer systematischen Beschönigung der Verbrechen des Nationalsozialismus begleitet. So hat Jörg Baberowski von der Humboldt-Universität bereits 2014 behauptet: „Hitler war nicht grausam“, und seitdem wird er von staatlicher Seite unterstützt. Wenn die Arbeiterklasse dem nicht Einhalt gebietet, werden die Folgen des erneuten vulkanischen Ausbruchs des deutschen Imperialismus selbst die Schrecken des Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg übertreffen.
Die Arbeiter müssen jeden Versuch, Romantschenkos Tod für weitere imperialistische Kriegsvorbereitungen gegen Russland zu nutzen, mit Verachtung zurückweisen. So kriminell und reaktionär Putins Krieg in der Ukraine auch ist, die Vergleiche mit Hitler und Nazideutschland sind falsch. Sie verharmlosen letztlich das Ausmaß der Verbrechen des Faschismus. Sie tragen nur dazu bei, die Arbeiter abzustumpfen und zu verwirren, und das genau zu dem Zeitpunkt, an dem faschistische Kräfte überall auf der Welt ihr Haupt erheben. Die Ukraine steht derzeit im Mittelpunkt dieses Prozesses.
Vor allem müssen die Arbeiter Romantschenkos Tod als deutliche Mahnung verstehen, dass die Widersprüche des 20. Jahrhunderts ungelöst sind. Im Gegensatz zu den öffentlichen Behauptungen der 1990er Jahre, markierten die Auflösung der Sowjetunion und die Zerstörung der letzten Errungenschaften der sozialistischen Revolution von 1917 nicht „das Ende der Geschichte“. Ganz im Gegenteil: Dreißig Jahre später ist der Kapitalismus erneut im Begriff, die Menschheit in eine Katastrophe zu stürzen. Die Alternative: „Sozialismus oder Barbarei“, wie es die große Marxistin Rosa Luxemburg formulierte, stellt sich heute schärfer denn je.
Die einzige Möglichkeit, Romantschenko würdig zu gedenken, besteht im Aufbau einer sozialistischen Bewegung in der internationalen Arbeiterklasse, um dem imperialistischen Krieg, dem Faschismus und der Covid-19-Pandemie ein Ende zu setzen.
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