Christian Gerlach, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bern, Schweiz, ist einer der weltweit führenden Experten zum Holocaust und dem nationalsozialistischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Im Jahr 1998 verteidigte er seine Dissertation über die nationalsozialistische Besatzung Weißrusslands an der Technischen Universität Berlin, wo er bei Wolfgang Scheffler, einem Pionier der Holocaust-Forschung in Deutschland, studiert hatte. Die 1999 auf Deutsch unter dem Titel „Kalkulierte Morde“ erschienene Studie war bahnbrechend und zählt bis heute zu den wichtigsten Werken über den Vernichtungskrieg.
Zu den wichtigsten Arbeiten Gerlachs zählen zudem der Band Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg (Hamburger Edition, 1998) sowiedie beiden englischsprachigen Bände Extremely Violent Societies: Mass Violence in the Twentieth-Century World (Cambridge University Press, 2010) und The Extermination of the European Jews (Cambridge University Press, 2016). Zusammen mit Clemens Six von der Universität Groningen in den Niederlanden ist Gerlach auch Mitherausgeber des englischsprachigen Handbuchs über anti-kommunistische Verfolgungen (Palgrave Handbook of Anti-Communist Persecutions, PalgraveMacmillan, 2020).
Gerlach hat in seiner wissenschaftlichen Arbeit ausführlich die Ursprünge und wirtschaftlichen Hintergründe des Hungerplans, der auf die Aushungerung von 30 Millionen Slawen abzielte, die Planung und Durchführung der Ermordung von bis zu 3,5 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen sowie die brutale Partisanenbekämpfung der deutschen Wehrmacht im besetzten Weißrussland dokumentiert. Er deckte auch auf, dass wichtige Führer des bürgerlich-nationalistischen Widerstands gegen Hitler, die das gescheiterte Attentat auf ihn am 20. Juli 1944 mitorganisiert hatten, in Wirklichkeit Kriegsverbrecher waren.
Aufgrund seiner Forschungsergebnisse war Gerlach heftiger politischer Anfeindung und bösartigen Angriffen seitens des deutschen politischen und akademischen Establishments ausgesetzt. Eine feste Anstellung an einer deutschen Universität erhielt er nie.
In seinem Buch Bloodlands, versucht der amerikanische Professor Timothy Snyder von der Elite-Universität Yale durch dutzende Verweise auf Gerlachs Arbeiten den Eindruck zu erwecken, dass er sich bei seiner Darstellung des Vernichtungskriegs und der brutalen Kriegsführung der deutschen Wehrmacht gegen die sowjetischen Partisanen und die Zivilbevölkerung Weißrusslands auf Gerlach stützt. In Wirklichkeit versucht Snyder jedoch in seinem Buch, den Mythos der deutschen Wehrmacht, die angeblich auf die Gewalt der Sowjets hatte „reagieren“ müssen, wiederzubeleben — ein Mythos, der nicht zuletzt dank der Arbeiten Gerlachs endgültig widerlegt wurde.
Dies ist ein Interview mit Christian Gerlach, der 2011 selbst eine sehr kritische Rezension von Bloodlands für die American Historical Review, die führende amerikanische Fachzeitschrift in Geschichte, geschrieben hat.
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Clara Weiss: Sie haben Ihre Dissertation in den den 1990er Jahren geschrieben. Wie würden Sie die damalige öffentliche Wahrnehmung des 2. Weltkrieges und den Stand der Forschung beschreiben? Welche Forschungsfragen standen für Sie im Zentrum und welchen Einfluss hatte das politische und soziale Klima dieser Jahre auf Ihre Arbeit?
Christian Gerlach: Anfang und Mitte der 1990er Jahre leugneten Teil der deutschen Bevölkerung noch das ganze Ausmaß der deutschen Gewalt im Zweiten Weltkrieg und der Massenbeteiligung daran oder ignorierten sie. Ein anderer Teil erkannte sie an. Die politischen Eliten verfolgten damals schon die Taktik, (angeblich) fast alles zuzugeben, damit ihre Herrschaft zu rechtfertigen und sich als moralisch überlegen aufzuspielen, womit aus ihrer Sicht alle Arten von deutschem Imperialismus zu begründen waren. Sie begannen, Truppen ins Ausland zu entsenden und anderen Gesellschaften ‚Sanktionen‘ aufzuerlegen, um wie sie es nannten, ihre ‚Verantwortung‘ zu erfüllen. Daher brauchte es damals keinerlei Mut, Forschung über Naziverbrechen zu machen.
Unter Wissenschaftler/innen gab es kaum direkte Leugnung von nationalsozialistischer Gewalt, aber manche verteidigten weiterhin bestimmte Aspekte davon, und es gab erhebliche Wissenslücken. Eines der größten Probleme war der fälschliche Glaube, dass die deutschen Massenmorde im Zweiten Weltkrieg irrational gewesen seien und jeglicher wirtschaftlichen Logik widersprachen. Diese Ansicht vertraten auch viele Wissenschaftler/innen außerhalb Deutschlands, einschließlich vieler, die sich für radikale Linke hielten. Meine Arbeit sollte die politische Ökonomie der Massengewalt erkunden und zeigen, dass es keine grundsätzlichen Widersprüche zwischen den Morden und kollektiven (und privaten) Wirtschaftsinteressen gab. Aus Sicht der an der Verfolgung Beteiligten erschienen wirtschaftliche und ideologische Gründe für die Gewalt oft vereinbar, obwohl ihre Motive selbstverständlich komplex und manchmal in sich widersprüchlich waren. Auch legte ich Wert darauf, die Politiken der Gewalt gegen alle großen von Gewalt betroffenen Gruppen von Nichtkombattanten zu untersuchen, – nicht bloß eine, da alle Leben gleich wertvoll sind.
CW: Ihre wissenschaftliche Arbeit lässt keinen Zweifel an der Verantwortung des gesamten deutschen Staatsapparates, der Wehrmacht und auch der Großunternehmen für die Verbrechen des Nationalsozialismus. Sie haben außerdem dokumentiert, dass führende Mitglieder des Widerstands gegen Hitler in nationalistischen und militärischen Kreisen selbst in Kriegsverbrechen der Wehrmacht verwickelt waren.
CG: Meine Forschung zeigte nicht nur, dass verschiedene Teile des deutschen Staatsapparats und der deutschen Eliten verantwortlich waren, sondern auch die eifrige Beteiligung von kleinen und mittleren Funktionären und ihre vielen eigenen Initiativen für Gewaltakte (und auch die von Großunternehmen und übrigens auch kleinen Firmen). Und—wie andere Kolleg/inn/en in den 1990ern—sah ich, dass viele Nichtnazis an den Verfolgungen beteiligt waren. Zum Beispiel hatte die deutsche Wehrmacht die gleichen Klassenstrukturen wie Nazideutschland und war nicht bis ins Letzte nazifiziert, aber sie bot niederen Rängen Raum für Eigeninitiative und eigene Aktionen, was sich oft gewaltfördernd auswirkte und nicht mildernd. Ein Gesichtspunkt der Aktivitäten von Nichtnazis war die aktive Beteiligung von Oppositionellen und Verschwörern gegen Hitler an diversen Politiken und Akten der Gewalt in ihrer Eigenschaft als hohe und mittlere Militäroffiziere, besonders wenn es darum ging, absichtlich sowjetische Zivilist/inn/en bei der Partisanenbekämpfung aufs Korn zu nehmen und bestimmte Arten von sowjetischen Kriegsgefangenen zu töten. Nationalistischer Chauvinismus und Antikommunismus waren unter ihren Beweggründen.
Das zu veröffentlichen, versperrte mir sofort den Weg in viele deutsche Universitäten. Meine Befunde führten zu einer wissenschaftlichen Kontroverse (allerdings erhielt ich auch Unterstützung). Aber besonders gewisse Politiker attackierten mich in den Massenmedien und im Parlament, darunter ein Ex-Bundespräsident und manche Ex-Bundesminister, die mich beschuldigten, die Jugend zu verderben und das Andenken an ‚den Widerstand‘ zu beschmutzen. Aus ihrer Sicht symbolisierten diese Oppositionellen gegen Hitler das ‚andere‘ Deutschland, ein unschuldiges konservatives Deutschland, das tatsächlich jedoch nicht existierte.
CW: Zu Ihren wichtigsten Forschungen gehören Ihre Arbeiten zu den Ursprüngen und der Umsetzung des Hungerplans. Können Sie die Hauptziele des Hungerplans beschreiben? Wer stand hinter dem Plan und wie wurde er ausgearbeitet? In welchem Zusammenhang stand er zu der Vernichtungspolitik des Nazi-Regimes gegenüber der jüdischen und der sowjetischen Zivilbevölkerung?
CG: Wegen der britischen Seeblockade im Zweiten Weltkrieg war Deutschland von Überseelieferungen an Nahrungsmitteln, darunter Speiseölen, und Mineralöl abgeschnitten. Die Vorräte waren bald aufgebraucht. Vom Standpunkt der politischen und Militärführung in NS-Deutschland konnte dieser Ressourcenmangel zu Niederlage und Revolution führen wie am Ende des Ersten Weltkrieges. Um das zu verhindern, entwickelten deutsche Politiker für Ernährung und Landwirtschaft, Militär- und Wirtschaftsstrategen in den Monaten vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion einen Plan, sich diese fehlenden Ressourcen gewaltsam aus den zu besetzenden sowjetischen Gebieten zu holen. Ihren Ideen zufolge sollten Dutzende Millionen Sowjetbürger/innen verhungern, wenn sie zu diesen Zwecken von Nahrungsmittellieferungen abgeschnitten würden, namentlich die Stadtbevölkerung in der westlichen Sowjetunion und die Menschen in bestimmten sogenannten ‚Zuschussgebieten‘ (Nordrussland, grosse Teile Mittelrusslands und, bedingt, Weißrussland).
Die so gewonnenen Lebensmittel sollten in erster Linie nicht nach Deutschland geschickt werden, sondern um die deutschen Armeen zu versorgen, die die Sowjetunion angriffen. Deren rückwärtigen Versorgungslinien aus Deutschland (Eisenbahnen) würden schwach sein, weshalb sich der Nachschub auf Truppen, Waffen und Munition konzentrieren sollte und nicht Nahrung. Die Hungerpolitik schien bitter notwendig, um den harten Kampf gegen die Sowjets überhaupt gewinnen zu können. Daher gab es innerhalb des Militärs viel Unterstützung für den Hungerplan, bis in untere Ränge. Und die Stadtbevölkerung zu dezimieren, hätte den Plänen nach auch geheißen, zwei Gruppen der Feindbevölkerung anzugreifen, von denen man annahm, dass sie den antideutschen Widerstand anführen würden: die kommunistische Bewegung und die Juden, von denen die meisten in Städten wohnten. Diese Argumente überzeugten Nazis wie auch Armeeoffiziere.
In seiner relativ simplen Form ließ sich der Hungerplan nicht voll umsetzen. Mit ihren schwachen rückwärtigen Einheiten konnten die Deutschen die Stadtbevölkerung nicht von der Beschaffung von Lebensmitteln auf dem Lande oder der Flucht aufs Land abhalten. Und die Wehrmacht brauchte ein Mindestmaß an städtischen Arbeitskräften für militärische Zwecke. Als der deutsche Angriff im Herbst 1941 an der Front in die Krise geriet, wurde der pauschale Hungerplan fallengelassen und durch Gewaltpolitiken gegen spezifische Bevölkerungsgruppen ersetzt, die die Deutschen unter strikter Kontrolle hielten. Vereinfacht ausgedrückt, hieß dies, die sowjetischen Kriegsgefangenen verhungern zu lassen und die Juden zu erschießen, besonders in den sowjetischen Gebieten unter deutscher Militärverwaltung.
CW: Ihre Bücher über die Verbrechen des Nationalsozialismus zeichnen Sich auch dadurch aus, dass Sie die zentrale Bedeutung des Massenmordes an den sowjetischen Kriegsgefangenen betonen. Bis zu 3,5 Millionen der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Gefangenschaft wurden ermordet, die meisten von ihnen starben bis zum Frühjahr 1942 als Ergebnis einer systematischen Hungerpolitik. Bis heute ist dies ein relativ wenig bekannter Aspekt der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Könnten Sie die Politik und die Kriegspläne näher beschreiben, die hinter der Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen standen?
CG: Vor dem deutschen Einmarsch in der UdSSR und in seinen ersten Wochen sahen Pläne im deutschen Militär eine allgemeine Unterversorgung der sowjetischen Kriegsgefangenen mit Lebensmitteln, Unterkunft und Heizung vor. Dazu kam die Tötung bestimmter Kategorien, vor allem der Politoffiziere. In Wirklichkeit erschossen deutsche Einheiten sehr viele sowjetische Soldaten und Offiziere an der Front, die sich ergaben. Schließlich stellten die Kriegsgefangenen fast die einzigen Repräsentanten des sowjetischen Staates dar, die in deutsche Hände fielen. Die sowjetischen Kriegsgefangenen wurden von Anfang an unterversorgt, aber die Aushungerungspolitik gegen sie wurde im Herbst 1941 verschärft, gerade mit dem Beginn der kalten Jahreszeit. Ihre Rationen wurden erheblich gesenkt, besonders für die nicht arbeitenden Gefangenen. Infolgedessen starben etwa zwei Millionen von ihnen bis Februar 1942 (zwei Drittel). Sie fielen einer Kombination aus Hunger, Erschöpfung und Kälte zum Opfer. Viele wurden auch erschossen, als sie auf Märschen nicht mehr weitergehen konnten. Sie starben in der Obhut der deutschen Wehrmacht, überwiegend nicht der SS, als Teil einer radikalisierten Vernichtungspolitik gegen bestimmte Gruppen, wie zuvor angesprochen. Deutsche Wachsoldaten nahmen die Haltung ein, da könne man halt nichts machen. Ab dem Frühling 1942 wurden die sowjetischen Kriegsgefangenen für die Deutschen wichtiger als Arbeitskräftereservoir, aber trotzdem starb bis Kriegsende noch eine weitere Million (fast ein Drittel des Bestandes).
Die Vernichtung von drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand ist in der öffentlichen Erinnerung systematisch marginalisiert worden. Ebenso in der Wissenschaft, wo sie oft verniedlicht oder geleugnet wurde. Einiges an Forschung wurde auf Russisch und Deutsch veröffentlicht, aber, soweit ich weiß, gibt es keine einzige wissenschaftliche Monographie auf Englisch, die sich ausschließlich diesem Thema widmet. Keine. Das zeigt, wie ‚humanistisch‘ und ‚universal‘ die angloamerikanische Forschung zum Zweiten Weltkrieg ist.
CW: In dem Buch Bloodlands von Timothy Snyderaber auch im allgemeinen politischen Diskurs heutzutage — sei es von Politikern oder in den Medien —gibt es eine klare Tendenz, die enormen Leiden der russischen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg herunterzuspielen. Können Sie die Auswirkungen des Vernichtungskrieges für die Zivilbevölkerung näher erläutern?
In seinem fehlerhaften und tendenziösen Buch Bloodlands von 2010 spielt Timothy Snyder russisches Leiden nicht nur in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg herunter. Z.B. minimiert er die Zahl der Russen (d.h. Einwohner der RSFSR [Russische Sozialistische Sowjetrepublik], nicht Sowjetbürger generell), die als Folge der sowjetischen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in den frühen 1930er Jahren starben. Weiter suggeriert er, dass viele, die damals in Russland verhungerten, eigentlich Ukrainer gewesen seien (S. 48, 53 in der englischen Ausgabe; das stimmt zwar bezüglich vieler Deportierter, doch andererseits waren viele derer, die damals auf ukrainischem Boden an der Hungersnot starben, russischsprachig, was immer das heissen mag). Seine ganze Argumentation, dass der sowjetische Staat spezifisch Ukrainer verhungern lassen wollte, würde spätestens dann nicht funktionieren, wenn er die sowjetische Hungersnot 1920-1922 berücksichtigen würde. Sie war teilweise auch auf sowjetische Politik zurückzuführen, forderte möglicherweise mehr Todesopfer als jene von 1930-1933 und hatte ihr Zentrum in Russland (nicht der Ukraine), aber Snyder geht über sie in ein paar Zeilen hinweg, ohne Erwähnung von Russen (S. 11 in der englischen Ausgabe). Außerdem minimiert er die Zahl der von den Deutschen spezifisch in Russland ermordeten Juden, unterschätzt die Zahl der Russen, die als sowjetische Kriegsgefangene in deutscher Hand starben (S. 505, Anmerkung 15, in der englischen Ausgabe) und übergeht, dass die deutsche Hungerpolitik von 1941 sich gegen die Bevölkerung in Zentralrussland richtete (S. 162 in der englischen Ausgabe). Selbstverständlich ist Snyders Buch antisowjetisch, es ist aber auch dezidiert antirussisch.
Was die Tatsachen angeht, so erlitten die Zivilist/inn/en in Sowjetbelarus und der Sowjetukraine überproportional große Verluste im deutsch-sowjetischen Krieg, da ihr ganzes Territorium unter deutsche Besatzung kam und in Russland nur Teile. Andererseits hatten die Russen höhere militärische Verluste als die Bevölkerung anderer Sowjetrepubliken, weil sie das größte verbleibende Rekrutierungsreservoir darstellten, vor allem ab 1942. Viele sowjetische Soldaten, die in deutsche Hände fielen, waren Russen. Zu den russischen (nicht allgemein sowjetischen) zivilen Verlusten zählten 600,000 bis eine Million, die im belagerten Leningrad an Hunger und Kälte zugrunde gingen; ermordete Juden, denen die Flucht nach Osten nicht gelang; bei der deutschen Partisanenbekämpfung wurden viele unbewaffnete Zivilist/inn/en in Nordwestrussland, dem westlichen Mittelrussland und auf der Krim getötet (die Krim gehörte damals zu Russland); deutsch organisierter Hunger tötete viele auf der Krim und in Städten und Dörfern im Vorfeld von Leningrad und anderswo; und deutsche Truppen misshandelten und töteten viele bei Zwangsarbeit, Deportationen und der gezielten Zerstörung von Städten und kleineren Ortschaften bei Rückzügen, besonders im westlichen Mittelrussland und z.B. in Stalingrad. Viele Russ/inn/en starben 1942-1943 im unbesetzten Gebiet in einer Hungersnot, hervorgerufen durch die (notwendigen aber rücksichtlosen) Kriegsanstrengungen und den Verlust wichtiger Agrargebiete an die Deutschen.
CW: In Ihrer Rezension des Buches Bloodlands für die amerikanische Fachzeitschrift American Historical Review, haben Sie darauf hingewiesen, dass das Buch auch die Rolle von Kollaboration und Antisemitismus vor Ort herunterspielt, und zudem die sozialen Konflikte innerhalb der besetzten Territorien ignoriert. Das Ergebnis ist ein Narrativ, das in wesentlichen Punkten mit den historischen Mythen von Nationalisten in Weißrussland, der Ukraine und Polen übereinstimmt. Wie würden Sie die politischen und sozialen Dynamiken in den nationalsozialistisch besetzten Gebieten der Sowjetunion beschreiben?
CG: Die deutsche Besatzung führte zu viel geographischer, aber auch sozialer Mobilität. Sie führte zur Verarmung der Massen, schuf aber auch Chancen für einige Gruppen, auf Kosten anderer aufzusteigen. Kommunisten und sowjetische Funktionäre flohen, gingen in den Untergrund oder wurden ermordet; Juden wurden in Ghettos gesperrt und getötet; ethnische Polen systematisch benachteiligt. Auch gab es Spannungen zwischen Stadt- und Landbevölkerung und zwischen Männern und Frauen.
Diejenigen, die innerhalb der örtlichen Hilfsverwaltung und Polizei aufstiegen (wo sie unter deutschem Befehl oder deutscher Aufsicht standen) und eine neue Elite zur bilden begannen, gehörten meist zur regionalen Mehrheitsethnie (Ukrainer, Weißrussen, Letten usw., je nach Gebiet) und waren recht verschiedenen Herkommens. Manche waren aus Deutschland und anderen Ländern zurückgekehrte Exilanten, andere waren früher der Repression ausgesetzte Bürgerliche oder alte Feinde des Kommunismus. Für die meisten aber galt nichts davon. Zum Beispiel waren viele dieser Beamten und Polizisten junge Männer aus Familien von Bauern, landwirtschaftlichen Kollektivarbeitern oder städtische Intellektuelle. Manche könnte man als Faschisten bezeichnen, die meisten eher nicht, fast alle aber waren aggressive Nationalisten, die nicht unbedingt Liebe für die Deutschen empfanden. Darum spreche ich nicht von Kollaboration (ein Begriff, der Verrat an der eigenen Nation impliziert). Diese Leute nahmen – oft aktiv – an der Ermordung, Ausraubung und Misshandlung von Juden und Jüdinnen teil, an der Jagd auf Kommunisten, am Verschicken von Leuten aus missliebigen Familien zur Zwangsarbeit nach Deutschland und an Angriffen auf Zivilisten bei der Partisanenbekämpfung.
Ein Bürgerkrieg in der Westukraine und in der Gegend von Lublin 1943 zeigt, wohin solche Spannungen führen konnten. Unter deutscher Herrschaft (und gegen ihren Willen) attackierten ukrainische und polnische Nationalistenverbände Dörfer der anderen Ethnie, was zu mindestens 50.000 Toten und hunderttausenden Flüchtlingen führte, meist Pol/inn/en (und einschliesslich versteckter Juden und Jüdinnen). Es bekriegten sich der militärische Arm der ukrainischen OUN (Bandera) und die Polnische Heimatarmee. Im Sommer kamen prosowjetische Partisanen dazu. Und viele Landbewohner wollten einfach in Ruhe gelassen werden. Bürgerkriege mit mehreren verschiedenen Parteien zeigte die gesellschaftliche Zersplitterung auch in anderen Ländern während des Zweiten Weltkrieges wie in China, den Philippinen, Burma, Jugoslawien, Griechenland und Italien. Was die Westukraine angeht, wirkt dieser Infight verrückt, aber er bezog sich auf Groll und Schädigungen aus der Vergangenheit und drehte sich um ganz verschiedene politische und gesellschaftliche Zukunftsvisionen: Wenn die Deutschen nicht mehr da wären, sollte das Gebiet (Wolhynien, das 1919-1939 Teil Polens gewesen war) Teil einer unabhängigen, antikommunistischen Ukraine werden, eines antikommunistischen Polen oder aber der Sowjetunion? Wer würde die Gesellschaft beherrschen: ukrainische Bauern und Intellektuelle? Polnische Großgrundbesitzer und Beamte? Sowjetische Kader und Arbeiter? Oder, wie viele glaubten und befürchteten, ‘Juden’? Solche Anschauungen bestimmten, wer angegriffen wurde. Örtliche Einwohner hatten selbst Handlungsmacht und waren nicht nur passive Objekte nazideutscher (und sowjetischer) Herrschaft und Gewalt.
CW: Sie haben ausführlich zur genozidalen Politik Nazideutschlands aber auch zu anderen Genoziden geforscht. Heute wird der Begriff des “Völkermordes” oder “Genozids” regelmäßig von Politikern und den Medien verwand. Dabei werden aber praktisch keine Beweise angeführt, und es gibt keine annähernd ernsthafte Diskussion darüber, was dieser Begriff überhaupt bedeutet. Könnten Sie für ein Laienpublikum erklären, welche Kriterien und Fragen ein Historiker beachten muss, wenn es darum geht, ein gegebenes historisches Phänomen als Genozid einzuordnen?
CG: Genozid ist ein analytisch wertloses Konzept für politische Zwecke. Ich gebrauche es nicht. Es dient zur politischen Verurteilung und zur Intervention, d.h. als Kriegsvorwand (ob nun mit Luftangriffen, Bodentruppen oder tödlichen ‚Sanktionen‘, denn Wirtschaftskrieg ist Krieg). Außerdem dient es für spätere Schauprozesse als Teil zweier Gegenmittel, die bourgeoise Regime zu bieten haben: erzwungener ‚regime change‘ und ein bisschen Umerziehung. Aber da die sozioökonomischen Probleme und Konflikte, die Massengewalt zugrundel iegen, auf diese Weise nicht beseitigt werden, sind solche Interventionen so ‚erfolgreich‘ in der Beendigung der Gewalt, wie sie es in Irak oder Libyen waren; d.h. oft wird die Gewalt im Gegenteil nur noch gesteigert.
Historisch gesehen, wurde der Begriff Genozid 1944 im Kontext des US-Imperialismus geprägt, und Genozidstudien als akademisches Gebiet kamen in den 1990er und 2000er Jahren groß raus, als Instrument des damals im Aufstieg begriffenen liberalen Imperialismus. Das akademische Gebiet Genozidstudien erreichte in den frühen 2010er Jahren seinen Höhepunkt, erlebte dann aber eine Stagnationsperiode, zusammen mit der Krise des liberalen Imperialismus.
Als aktionsorientiertes Konzept muss ‚Genozid‘ zwangsläufig grobe Vereinfachungen vornehmen. Es hindert die Menschen am Verstehen der tiefen Wurzeln und Komplexität von Massengewalt. Genozidstudien tendieren dazu, sich auf ethnische oder rassische Fragen zu konzentrieren statt auf Multikausalität; auf den Staat anstatt auf gesellschaftliche Akteure; auf langgehegte Absichten zur Gewalt, Planung und Zentralisierung anstatt auf Prozesse und autonom handelnde Gruppen; und auf eine Opfergruppen anstatt der vielen, die es meist gibt (siehe Christian Gerlach, Extremely Violent Societies: An Alternative to the Concept of Genocide, in: Journal of Genocide Research, vol. 8, no. 4, 2006, S. 466). Daher schafft das Genozidkonzept auch Opferhierarchien, d.h. die Vorstellung von Opfern von verschiedenem Wert; Hierarchien, die in Wirklichkeit oft rassistisch sind.
Jede/r weiß, dass der Begriff ‚Genozid‘ in der Öffentlichkeit übermäßig und willkürlich gebraucht wird. Das brauche ich einem Laienpublikum nicht zu erklären. Diese Willkürlichkeit herrscht auch unter vielen Wissenschaftler/innen, einschließlich ‚Experten‘, und daher ist es bloss eine politische Feststellung, wenn man etwas ‚Genozid‘ nennt (oder nicht), und sagt nichts darüber aus, was in dem Land wirklich vor sich geht, auf das man sich bezieht. Leider benutzen viele, die sich als radikale Linke sehen, den Begriff ‚Genozid‘ ebenfalls und denken gemäß diesem Konzept. Das ist ein Anzeichen für den beklagenswerten Zustand der Linken in den Industrieländern (und vielen anderen Ländern), ihren Sozialreformismus und ihre analytische Schwäche.