Am 29. Mai jährte sich zum 30. Mal der Brandanschlag in Solingen. Wir veröffentlichen hier erneut einen Artikel, der zum 25. Jahrestag der rechtsextremen Mordtat auf der World Socialist Web Site erschien.
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Am Pfingstsamstag, dem 29. Mai 1993, fiel in Solingen die Familie Genç einem rechtsextremen Anschlag zum Opfer. Deshalb fand schon am vergangenen Samstag ein Gedenkmarsch zu dem Solinger Grundstück statt, auf dem heute fünf Kastanienbäume stehen. Sie erinnern an fünf Menschen, die damals im Schlaf überrascht wurden und qualvoll verbrannten.
Der Brandanschlag in Solingen ist laut Gericht „eines der schwersten ausländerfeindlichen Verbrechen der Nachkriegsgeschichte“. Die fünf jungen Frauen und Mädchen, die in den Flammen umkamen, hießen Gürsün Ince, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk und Hülya und Saime Genç. Außerdem erlitten 14 weitere Familienmitglieder teilweise lebensgefährliche Verletzungen, die bis heute nachwirken.
Für die Tat wurden vier Jugendliche und junge Männer mit Verbindungen in die rechtsradikale Szene verurteilt. Doch die wirklichen Verantwortlichen trugen weder Glatze noch Knobelbecher: Sie saßen in der Regierung und in den Parlamentsparteien.
Nur drei Tage vor dem Anschlag in Solingen hatte der Deutsche Bundestag in Bonn beschlossen, die Verfassung zu ändern und das Asylrecht auszuhebeln. Am 26. Mai 1993 strich der Bundestag den bisherigen Artikel 16 („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“) aus dem Grundgesetz und ersetzte ihn im neuen Artikel 16a durch ein kompliziertes Konstrukt, das seither immer weiter ausgehöhlt worden ist.
Um die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Verfassungsänderung zu erreichen, benötigte die CDU/FDP-Koalition unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) die Stimmen der SPD. Während draußen, rund um die Bonner Bannmeile, über zehntausend Menschen demonstrierten, garantierten die Sozialdemokraten im Plenarsaal den Erfolg der Abstimmung. Es war das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ein verfassungsmäßiges Grundrecht geändert wurde.
Die Ereignisse sind gerade heute wieder von erschreckender Aktualität. 25 Jahre nach Solingen greift auch die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD erneut zu den Mitteln des übelsten Rassismus‘ und der Ausländerfeindlichkeit. Nur haben sich die Bedingungen heute drastisch verschärft.
Vor 25 Jahren erwies sich die Wiedervereinigung von 1991 mit ihren Versprechen von „blühenden Landschaften“ als rücksichtsloser Raubzug auf die Arbeiterklasse. Die Treuhand vernichtete hunderttausende Arbeitsplätze. So wurde im Osten die Kaliindustrie komplett dichtgemacht, was zu wochenlangen Hungerstreiks in Bischofferode führte. Auch im Westen, wo Werke wie Krupp-Rheinhausen stillgelegt wurden, standen zehntausenden Stahl- und Bergarbeiter vor der Entlassung. Um der wachsenden Kampfbereitschaft entgegenzutreten und den braunen Bodensatz der Gesellschaft zu mobilisieren, trat die Regierung ihre ausländerfeindliche Kampagne los.
Dem Anschlag in Solingen waren mehrere Brandanschläge vorausgegangen, die sich überwiegend gegen Asylbewerber gerichtet hatten: im September 1991 in Hoyerswerda, im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen und im Oktober 1992 in Lübeck. Mit dem Anschlag von Mölln am 23. November 1992 hatte sich der Terror zum ersten Mal nicht gegen Flüchtlinge, sondern gegen eine türkische Familie gerichtet, die seit Jahrzehnten hier lebte. Die Familie Arslan verlor drei Angehörige, darunter zwei kleine Mädchen.
In der Bevölkerung riefen der rechtsradikale Terror und besonders der Anschlag von Mölln einen Aufschrei hervor, überall gingen Menschen auf die Straße. Die Politik reagierte zweigleisig: Erstens reihten sich die Politiker, bis hinauf zu Kanzler Kohl persönlich, in die Lichterketten ein und heuchelten Empörung. Regierung und Justiz verboten ein paar faschistische Organisationen. Zweitens heizten sie eine Kampagne gegen angeblichen Asylmissbrauch an und bereiteten den Angriff auf das Asylrecht im Grundgesetz vor.
Die Asyl-Entscheidung des Bundestags hatte dann eine regelrechte Signalwirkung für rechte Brandstifter. Sie war der Auftakt für eine beispiellose rassistische Mord- und Brandwelle. Innerhalb weniger Tage folgten Anschläge in München, Frankfurt am Main, Konstanz, Hattingen, Soest und Bergisch-Glattbach und an andern Orten. Überall zündeten neonazistische Elemente die Wohnungen und Ladenlokale türkischer Familien an. Fünf Jahre später begann der NSU unter den Augen des Verfassungsschutzes seine mörderische Tätigkeit.
Kurz nach den Morden von Solingen, am 11. Juni 1993, warnte die Neue Arbeiterpresse, die Zeitung des SGP-Vorläufers Bund Sozialistischer Arbeiter: „Die erste Welle rassistischer Gewalt richtete sich gegen Flüchtlinge und Asylbewerber. Sie endete damit, dass Regierung und Opposition den Schlachtruf ‚Deutschland den Deutschen‘ zur offiziellen Politik erhoben (…). Die zweite Welle richtet sich gegen ausländische Arbeiter – und auch sie findet bereits Widerhall bei Regierung und SPD. Die dritte Welle wird sich gegen die deutschen Arbeiter selbst richten. Es ist höchste Zeit, dass sie aufwachen und die Verteidigung der ausländischen Kollegen in die eigene Hand nehmen.“
Heute zeigt sich die volle Bedeutung dieser Worte. Die soziale Krise ist viel weiter fortgeschritten als vor 25 Jahren. Millionen Menschen leben in Armut, schuften zu Niedriglöhnen und sind trotz Vollzeitarbeit auf Hartz IV angewiesen. Auf der anderen Seite besitzen in Deutschland 36 Individuen ebenso viel Vermögen wie die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung.
Seit der Finanzkrise von 2008 reagiert die deutsche Regierung auf die wachsenden internationalen Konflikte mit der Rückkehr zu Großmachtpolitik und Militarismus. Sie steckt Dutzende Milliarden Euro in die Rüstung und presst das Geld dafür durch soziale Angriffe aus der arbeitenden Bevölkerung heraus. Gegen den zwangsläufig entstehenden Widerstand mobilisiert sie im Innern einen beispiellosen Überwachungsstaat.
In diesem Zusammenhang lässt sie die Flüchtlingshetze der frühen 90er Jahre wieder aufleben, um der Opposition gegen soziale Ungleichheit, Staatsaufrüstung und Militarismus entgegenzutreten, den Staatsapparat aufzurüsten und demokratische Grundrechte abzuschaffen. Die Große Koalition verdoppelt die Abschiebungen, legt „sichere Herkunftsländer“ fest und kaserniert die Geflüchteten in so genannten „Ankerlagern“. Ereignisse wie die Kölner Sylvesternacht, der harmlose Protest von Flüchtlingen in Ellwangen oder angebliche „Missstände“ beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) werden von den Medien verfälscht und aufgebauscht, um Stimmung gegen Geflüchtete und all diejenigen zu schüren, die mit ihnen solidarisch sind und sie verteidigen.
Die etablierten Parteien und die AfD spielen sich dabei gegenseitig die Bälle zu. Die rechtsextreme Partei wächst und gedeiht auf dem Schmutz dieser Kampagnen und sitzt mittlerweile mit 94 Abgeordneten im Bundestag. Viele von ihnen waren vorher in anderen Parteien, bei der Bundeswehr oder im Staatsapparat aktiv. Fast täglich kann die AfD im Fernsehen auftreten und bei Anne Will oder Markus Lanz ihre Hetztiraden ungehindert verbreiten.
Um den Abbau demokratischer Grundrechte zu rechtfertigen, bedienen sich Politiker wie Journalisten derselben Argumente, die schon damals angeführt wurden, nur hieß es damals „Asylantenflut“ und heute „Flüchtlingswelle“.
Vor 25 Jahren begründete der SPD-Abgordnete Hans-Ulrich Klose im Bundestag seine Zustimmung zur Asyl-Änderung mit der „sehr konkreten Angst“, die Zuwanderung gefährde „am Ende die Stabilität unserer Demokratie“. Heute behauptet Justizministerin Katerina Barley (SPD), um „Vertrauen wiederherzustellen“ sei es notwendig, bundesweit alle Asylentscheidungen stichprobenhaft zu überprüfen – eine Maßnahme, die jeden bereits anerkanntem Geflüchteten zu ständiger Angst und Verunsicherung nötigt.
Um Geflüchtete schneller abschieben zu können, unterstützt SPD-Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles die Forderung der Union, die Maghreb-Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. „Ja, das haben wir gemeinsam vereinbart“, sagte sie stolz der Passauer Neuen Presse. Das gehöre für sie „zur Willkommenskultur dazu“, so Nahles, denn „wir können nicht alle bei uns aufnehmen“.
Ins gleiche Horn stoßen auch Politiker der Grünen und der Linkspartei. Gegen einen Bamf-Untersuchungsausschuss des Bundestags äußern sie nur deshalb Vorbehalte, weil ein solcher „zu lange dauern würde“. „Wir brauchen aber Lösungen hier und jetzt“, so argumentieren praktisch gleichlautend Katrin Göring-Eckart (Die Grünen) und Sahra Wagenknecht (Die Linke).
Die Hetze und der Terror gegen Geflüchtete stoßen in breiten Teilen der arbeitenden Bevölkerung und der Jugend auf Abscheu und Entsetzen. So haben am letzten Sonntag in Berlin 70.000 Menschen gegen einen rechtsextremen Aufmarsch der AfD protestiert, die nur 3000 Anhänger auf die Beine brachte. Aber diese Opposition braucht eine politische Perspektive.
Anfang Dezember 1992, nur zwei Wochen nach dem Brandanschlag von Mölln, veranstaltete der BSA, der Vorläufer der Sozialistischen Gleichheitspartei, in Frankfurt eine internationale Konferenz gegen Rassismus und Kriegsgefahr. Sie warnte in ihrer Resolution davor, sich im Kampf gegen faschistischen Terror auf den Staat zu verlassen, und rief die internationale Arbeiterklasse auf, „sich über alle Grenzen hinweg, unabhängig von Hautfarbe, Sprache und Nationalität, zu einem gemeinsame Kampf zusammenzuschließen“. „Nur die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen das kapitalistische System kann die braune Gefahr eindämmen“, hieß es in der Resolution. Das hat sich seither dramatisch bestätigt.