Am Mittwochnachmittag bezeichnete US-Präsident Biden in einer öffentlichen Ansprache im Weißen Haus den jüngst verabschiedeten Tarifabschluss für die Hafenarbeiter an der Westküste als einen „guten Deal für die Arbeiter, die Unternehmen und die Vereinigten Staaten von Amerika“.
In Wirklichkeit ist dieser sechsjährige Tarifvertrag ein großer Sieg für die Konzerne und die Biden-Regierung. Biden ist entschlossen, alle Streiks oder Arbeitsniederlegungen zu verhindern, die eine Gefahr für die „nationale Sicherheit“ – d.h. die US-Kriegspolitik – darstellen. Nur wenige Stunden vor Bidens Erklärung war Außenminister Antony Blinken in Kiew gelandet und hatte eine weitere Milliarde Dollar Militärhilfe für den Nato-Krieg gegen Russland zugesagt.
Am 31. August, nach mehr als dreizehnmonatigen „Verhandlungen“ hinter verschlossenen Türen, erklärte die Gewerkschaft International Longshore and Warehouse Union (ILWU), die vorgeblich etwa 22.000 Hafenarbeiter in 29 Häfen an der Westküste vertritt, dass der Tarifvertrag zwischen der Gewerkschaft und der Pacific Maritime Association (PMA) von einer Mehrheit von 75 Prozent der Abstimmungsteilnehmer bewilligt worden sei.
Genau wie bei vielen Gewerkschaften heutzutage besteht auch bei der ILWU ein Stufensystem, in dem Mitglieder in die Kategorien A, B und Casual (Gelegenheitsarbeiter) unterteilt sind. Etwa 7.000 Hafenarbeiter der letzten Kategorie gelten nicht als Teil der Gewerkschaft und dürfen nicht über den Tarifvertrag abstimmen, obwohl sie jahrelang danach arbeiten müssen.
Laut den Zahlen der ILWU stimmten 8.854 Teilnehmer an der Abstimmung für die Ratifizierung, 2.997 dagegen. Eine weitere Auflistung nach Ortsverbänden zeigt, dass der größte Widerstand gegen den Tarifvertrag aus den größten Häfen kam, aus San Francisco-Oakland und Los Angeles-Long Beach. Hier stimmten 30 bis 40 Prozent der Mitglieder gegen den Tarifvertrag.
Die Lohnerhöhungen in dem Tarifvertrag – 32 Prozent, verteilt über sechs Jahre – werden bei den vielen Hafenarbeitern an den Küsten von Kalifornien bis Washington mit dem Anstieg der Lebenshaltungskosten nicht Schritt halten. Der einmalige „Heldenbonus“ für Arbeiter, die während der Pandemie durchgearbeitet haben, ist ein Bruchteil der Milliardenprofite, welche die Reedereien seit dem Beginn der Corona-Pandemie für sich abgezweigt haben.
Die Gewerkschaft betont die Zustimmung von 75 Prozent, aber mehr als 2.000 Hafenarbeiter haben sich nicht an der Wahl beteiligt, obwohl sie dazu berechtigt waren. Dafür gibt es viele Gründe. Einige Hafenarbeiter erklärten gegenüber der World Socialist Web Site, die Wahl sei persönlich mit Wahlzetteln aus Papier durchgeführt worden, sodass es für Arbeiter, die nicht in der Nähe ihres Ortsverbandes leben, schwierig gewesen sei, so kurzfristig zu wählen. Andere trauten der Gewerkschaftsbürokratie nicht zu, ihnen einen besseren Vorschlag vorzulegen, und verweigerten ihr ihre Stimme.
Das hinderte Biden nicht daran, das Abkommen als Musterbeispiel für „funktionierende Tarifverhandlungen“ darzustellen. In seiner Rede am Mittwoch bedankte er sich bei den Teilnehmern, darunter ILWU-Präsident Willie Adams, und erklärte: „Ich kenne Willie seit langem.“ Er lobte Adams, den Vorstandschef der PMA Jim McKenna und die amtierende Arbeitsministerin Julie Su dafür, weil sie den Deal „zustande gebracht“ hatten. Su war letztes Jahr die Stellvertreterin von Arbeitsminister Marty Walsh, als Biden und beide Parteien im Kongress einen Streik von 110.000 Eisenbahnern verboten hatten.
Biden bezeichnete den Tarifvertrag der Hafenarbeiter als „historisch“, obwohl er die Forderungen dieser Arbeiter nach Schutz vor Automatisierung, Lohnerhöhungen oberhalb der Inflationsrate, höheren Renten und besseren Gesundheitsleistungen für Gelegenheitsarbeiter nicht erfüllt. Biden erklärte: „Mit diesem Tarifvertrag werden die Hafenarbeiter in diesen 29 Häfen die Löhne, Zusatzleistungen und Arbeitsbedingungen erhalten, die sie meiner Meinung nach verdienen.“ (Hervorhebung hinzugefügt)
Der Tarifvertrag war nicht das Ergebnis eines demokratischen Prozesses in der Belegschaft, sondern wurde von Biden von oben her diktiert, um die räuberischen Bedürfnisse der Wall Street und des US-Imperialismus zu bedienen. Der Kampf der Hafenarbeiter zeigt, dass die Arbeiter nicht nur einen Kampf gegen die Konzerne führen, sondern auch einen politischen Kampf gegen die gesamte herrschende Klasse und ihren Staatsapparat.
Dies wurde während des gesamten „Verhandlungsprozesses“ deutlich. Bewusst war er darauf ausgelegt, die Hafenarbeiter im Dunkeln und von ihren Kollegen und Kolleginnen isoliert zu halten. Die ILWU, die PMA und die Biden-Regierung haben die Hafenarbeiter mehr als ein Jahr lang ohne Tarifvertrag und Urabstimmung weiterarbeiten lassen. Dies zog sich auch noch durch den Sommer hin, als mehr als 7.200 kanadische Hafenarbeiter in British Columbia – ebenfalls Mitglieder der ILWU – Ende Juni in Streik traten.
Während des Hafenarbeiterstreiks in British Columbia weigerte sich die ILWU in den USA, eine Urabstimmung durchzuführen. Sie akzeptierte die Streikbruch-Arbeit, als Fracht aus kanadischen Häfen in die USA umgeleitet und dort gelöscht wurde. Es steht außer Frage, dass Adams seine Marschbefehle von der Biden-Regierung über Su erhalten hat: Die Regierung werde keine Streiks dulden, die den Seetransport an der Westküste ernstlich beeinträchtigten. Biden betonte am Mittwoch die „riesige wirtschaftliche Bedeutung“ der Häfen. Er fügte hinzu, dass das neue Abkommen größere Unterbrechungen kritischer Versorgungslinien verhindern und sicherstellen werde, „dass Waren schnell und effizient durch das Land transportiert werden“.
Diese „lebenswichtigen Nachschubwege“ umfassen auch die Lieferung von Kriegsgerät in die Ukraine, nach Australien, Taiwan und in weitere Länder. Seit Beginn des Nato-Kriegs gegen Russland im letzten Jahr hat sich die ILWU hinter die Kriegspläne der Biden-Regierung gestellt und sich geweigert, russische Fracht zu löschen. Und sie hat die Arbeiter vom Streiken abgehalten.
Die herrschende Klasse Amerikas hatte große Angst, dass ein Streik der Hafenarbeiter an der Westküste mit anderen Tarifkämpfen zusammenkommen, Washingtons Kriegsanstrengungen schädigen und ein breiteres Anwachsen des Klassenkampfs begünstigen könnte. Vor allem durfte ein solcher Streik nicht mit dem Tarifkampf der Eisenbahner im letzten Jahr oder dem aktuellen Streik von 76.000 Drehbuchautoren und Schauspielern zusammenfallen.
Die Biden-Regierung hat zwei Verteidigungslinien, über welche sie eine solche Entwicklung zu verhindern versucht: entweder mit Hilfe der bürokratisierten und nationalistischen Gewerkschaften, oder über eine direkte staatliche Intervention.
In seiner Rede am Mittwoch bedankte sich Biden bei den Protagonisten der ersten Linie für ihre Dienste, die sie dem kapitalistischen Staat geleistet hatten. Er lobte zunächst Adams und Su, dann gratulierte er der Bürokratie der Teamsters-Gewerkschaft, die bei UPS letzten Monat einen Tarifvertrag durchgesetzt hatte, obwohl dieser nach Angaben der Gewerkschaft nur unter großem Misstrauen der Belegschaft zustande kam. Genau wie das Abkommen der ILWU bezeichnete Biden auch den Tarifvertrag der Teamsters als „historisch“ und erklärte, mit diesen Abkommen „funktionieren unsere Lieferketten weiterhin so, wie sie sollen“.
Biden wies auf die Vorzüge hin, die der Gewerkschaftsapparat den Arbeitgebern als Betriebspolizei durch die Verhinderung von Streiks und die Erhöhung der Produktivität biete, und er erklärte: „Amerikanische gewerkschaftlich organisierte Arbeiter sind die besten der Welt. Sie machen ihren Job lange Zeit und für viel geringere Kosten. Das beginnen die Leute zu verstehen.“
Biden fügte hinzu: „Den Wohlhabenden geht es sehr gut.“
Die Ausverkäufe der ILWU und der Teamsters sind nur die jüngsten Beispiele für eine ganze Reihe von Tarifverträgen, die seit Beginn des Kriegs in der Ukraine durchgesetzt worden sind.
Unmittelbar nach dem Überfall am 25. Februar kündigten Biden und die Gewerkschaft United Steelworkers (USW) eine vorläufige Vereinbarung an, um einen Streik von 30.000 Ölraffineriearbeitern und Beschäftigten der petrochemischen Industrie zu verhindern. Bei der Bekanntgabe des Deals erklärte USW-Präsident Tom Conway stolz, damit „verschärft sich nicht die Inflation“. Weniger als 72 Stunden zuvor hatte sich Biden über das Internet mit Conway, anderen Gewerkschaftsbürokraten und US-Regierungsvertretern aus dem Energie- und Verteidigungsministerium ausgetauscht.
Im selben Monat kündigte die Teamsters Canada Rail Conference (TCRC) in Kanada eine Schlichtungsvereinbarung mit der Canadian Pacific Railway (CP) an. Die Belegschaft hatte kein Mitspracherecht bei den Bedingungen der Vereinbarung, die eine Aussperrung von 3.000 Beschäftigten beendete und sie daran hinderte, zu streiken.
Während des Sommers und weit in den Winter hinein ließen die Biden-Regierung und die diversen Eisenbahnergewerkschaften, darunter die Brotherhood of Maintenance of Way Employes (BMWED) und die Brotherhood of Locomotive Engineers and Trainmen (BLET), die beide den Teamsters angehören, die Eisenbahner immer wieder über vorläufige Vereinbarungen abstimmen, die diese bereits abgelehnt hatten. Nach der Zwischenwahl verabschiedete der Kongress mit robusten Mehrheiten beider Parteien einen Gesetzesentwurf, der Eisenbahnern das Streiken verbietet. Biden unterzeichnete ihn sofort.
Und im letzten Jahr arbeitete die Biden-Regierung bei UPS Hand in Hand mit den Teamsters zusammen, um Streiks zu verhindern. Vor kurzem hatte Biden in die Tarifverhandlungen für 150.000 Autoarbeiter bei den Big Three (General Motors, Ford und Stellantis) interveniert Für sie läuft der Tarifvertrag nächste Woche aus. Letzten Monat hatte Biden die Unternehmen und die UAW aufgefordert, zusammen einen Deal auszuhandeln, und erklärt, er rechne nicht mit einem Streik: „Ich glaube nicht, dass das passieren wird.“
Mit anderen Worten, seit Beginn des Kriegs im letzten Februar hat die Regierung versucht, die Gewerkschaften in den Staatsapparat einzubinden, um Streiks in diesen wichtigen Teilen der Arbeiterklasse zu verhindern, die nicht nur für die US-Wirtschaft, sondern auch für den Krieg von entscheidender Bedeutung sind. Das Aufrechterhalten einer Kriegswirtschaft, die weiterhin Arbeiter und ihre Familien in Armut stürzt und den Rüstungsunternehmen die Konten füllt, erzwingt auch die Disziplin der Arbeiter an der „Heimatfront“.
Wenn die Automobilarbeiter und andere Teile der Arbeiterklasse die Angriffe auf ihr Leben und ihren Lebensstandard umdrehen wollen, wenn sie die Ressourcen der Gesellschaft auf den Erhalt und die Bewahrung des menschlichen Lebens statt auf dessen Zerstörung für den Profit umlenken wollen - dann müssen die Arbeiter zunächst feststellen, wer ihre „Freunde“ und wer ihre „Feinde“ sind. Der erste Schritt dazu ist der Bruch mit den degenerierten Gewerkschaften und die Bildung unabhängiger Aktionskomitees militanter Arbeiter, die den korrupten Bürokraten die Kontrolle über ihre Kämpfe entreißen.
Die Arbeiterklasse ist die einzige gesellschaftliche Kraft, die Krieg und den Kurs auf Diktatur beenden kann. Notwendig ist eine Rebellion gegen die Gewerkschaftsbürokratie, damit sich Arbeiterinnen und Arbeiter über alle Branchen- und Landesgrenzen vereinen können.