Die 74. Berlinale präsentierte auf der alljährlichen Retrospektive deutsche Filme der Nachkriegszeit unter dem Motto: „Das andere Kino – Aus dem Archiv der deutschen Kinemathek.“
Der Film „Herzsprung“ (1992) von Helke Misselwitz (geb. 1947) widerspricht dem offiziellen Bild der deutschen Wiedervereinigung, laut dem eine „friedliche Revolution“ die Diktatur in der DDR gestürzt und der Demokratie zum Durchbruch verholfen habe.
Die in der ehemaligen DDR geborene Helke Misselwitz wurde einem internationalen Publikum durch den Dokumentarfilm „Winter adé“ bekannt, der auf dem internationalen Dokumentarfestival in Leipzig 1988 ausgezeichnet wurde. Auf dem Höhepunkt der Gorbatschow-Begeisterung galt er als Vorbote einer demokratischen DDR. Die Premiere ihres ersten Spielfilms „Herzsprung“ im Jahr 1992 fiel zusammen mit einer Reihe fremdenfeindlicher Anschläge im wiedervereinigten Deutschland.
Im ostdeutschen Dorf Herzsprung, nahe der polnischen Grenze, werden nach Einführung der Marktwirtschaft fast alle arbeitslos. Die Küchenfrauen rupfen in der Betriebsküche der staatlichen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) Gänse, um Federn und Fleisch auf eigene Faust zu verkaufen, der Einzelhandel nimmt nichts mehr ab.
Auch die Köchin Johanna (Claudia Geisler) verliert die Arbeit. Ihr Mann Jan nimmt sich das Leben. Er hatte versucht, die Rinderzucht der LPG zu retten und selbständig weiterzuführen. Er scheiterte und verfiel dem Alkohol. Tagsüber fahren alte Schulkameraden Johannas in improvisierten Uniformen zynisch johlend durch die Gegend: „Der Sozialismus siegt!“ Sie verhöhnen die Parole der einstigen Staatsführung der DDR. Darunter „Soljanka“ der in Johanna verliebt ist.
Kurz nach Jans Tod nimmt Johanna einen jungen Afrodeutschen (Nino Sandow) im Auto mit, der gerade von Soldaten der im Abzug begriffenen sowjetischen Armee einen warmen Militärmantel eingetauscht hat. Er bleibt im Dorf und beginnt im neuen Imbiss an der Autobahn zu arbeiten, der wegen seiner Hautfarbe „Onkel Toms Hütte“ genannt wird. Der Laden kommt gut an.
Der Fremde (er bleibt im Film ohne Namen) sucht nach Johanna. Er trifft ihren Vater Jakob (Günter Lamprecht) zufällig vor der Gedenktafel, die daran erinnert, dass kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs KZ-Häftlinge durch den Ort getrieben wurden. Jetzt fordert eine Schmiererei dazu auf, Ausländer ins KZ zu schicken. Bist du Kommunist, fragt der Fremde Jakob, der stumm davorsteht. Nein, antwortet er, da waren nicht nur Kommunisten drin. Er war einer der Häftlinge, ein 15-jähriger Pole, den Johannas Mutter mutig versteckte. Er blieb und sie heirateten. Bei Johannas Geburt starb sie.
Die Schmiererei stammt von der Dorfclique. Woher kommt das, wir sind doch zusammen zur Schule gegangen? fragt Johanna ihren Vater ratlos.
Jakob warnt Johanna vor einer Beziehung mit dem Fremden, dessen Ruhelosigkeit ihn an die eigene erinnert. Er will sie auch vor feindseligen Stimmungen schützen. Als der frühere „Fremde“ im Dorf hat er dafür ein feines Gespür. Er hat nicht vergessen, dass anfangs nur Anuschka, Johannas Mutter, zu ihm hielt. Auch eine Frau aus dem Dorf warnt Johanna.
Aber Johanna liebt den jungen Mann. Sie weiß, dass er auch anderen Frauen hinterher sieht und sie irgendwann verlassen wird. „Du kannst mich ja trösten, wenn es so weit ist.“ Sie ist geradlinig wie die Mutter und gibt dem rückständigen Dorfklatsch nicht nach.
Es ist Johanna egal, dass sie den Küchenjob im Gästeteil eines Klosters nicht bekommt, wo man plötzlich entdeckt, dass sie ein angeblich unmoralisches Leben führt: jung verwitwet, mit einem Schwarzen. (Letzteres sagt man natürlich nicht offen.) Auch den Besitzer einer Schokoladenfabrik (Hanns Zischler) lässt sie abblitzen, der sich als Unternehmer für unwiderstehlich hält und sich einbildet, sie mit einem vagen Jobangebot in sein Bett zu bekommen.
Anziehungspunkt im Ort ist nach wie vor der Friseursalon der attraktiven Lisa (Tatjana Besson). Der alte Jakob schaut gern von seinem Fenster nach ihren schönen Beinen. Johanna bewundert Lisas Selbstsicherheit und Weltläufigkeit und lässt sich ihr Haar wie sie färben. Eines Tages macht Lisa ihren alten Traum wahr, reist in den Süden ans Meer, um nie mehr zurückzukehren.
Die Filmbilder von den Bahnschienen und das laute Rauschen des Meers auf der Videokassette, die Lisa dem Dorf schickt, sind direkte Reminiszenzen an Misselwitz‘ Film „Winter adé“, wo sie für die Sehnsucht standen, der örtlichen und geistigen Enge der DDR zu entfliehen. Der kalte „Winter“ ist für die Landarbeiter in Herzsprung nach der Wiedervereinigung nicht vergangen. Man versucht, das Beste daraus zu machen.
Als Projektionsfläche unterdrückter Sehnsüchte spielt Musik eine tragende Rolle im Film: Die Küchenfrau Elsa (Eva-Maria-Hagen) singt „Ich hab die Nacht geträumet“, später wird es international, gemütlicher Swing à la Fats Waller und ekstatisch-osteuropäische Sounds mit englischem Text. Das sowjetische Armeeorchester greift zum Abschied nicht in die abgedroschene offizielle Repertoire-Kiste „Deutsch-Sowjetische Freundschaft“, sondern spielt einen alten wehmütigen Tango.
Der Film endet mit einem Brandanschlag auf den Imbiss des Fremden durch die Dorfclique, die auch die Gedenktafel im Ort beschmiert hat. Am Ende wird Johanna, die aus dem brennenden Wagen flieht, zufällig von dem Messer getötet, das Soljanka blindlings in Richtung Baum wirft, wo die Clique den Fremden gefesselt hat.
Rechtsradikalismus war in der Ex-DDR kein Massenphänomen. Das zeigt der Film deutlich und widerlegt damit die bis heute propagierte Auffassung, der Aufstieg der Rechten sei ein Problem des Ostens. Es gab neben Dorfklatsch auch rückständige Vorurteile, persönliche Schwächen, Eifersucht. Es war nicht so wichtig, solange alle Arbeit und ihr Auskommen hatten. Auch der sozialen Katastrophe folgte kein allgemeiner Rechtsradikalismus.
Die Jugendlichen der Dorfclique in „Herzsprung“ wirken in dem lächerlichen Militär-Look und tarnfarbig angestrichenem Trabant wie die Karikatur einer Bürgerwehr, die allerdings niemand braucht. Ihre Hetze gegen polnische Billigarbeiter und ehemals privilegierte sowjetische Offiziersfrauen, die „uns“ jetzt die Arbeit wegnehmen, klingt phrasenhaft. Den polnischen Juden Jakob, Johannas Vater, der im Dorf angesehen ist, respektieren auch sie.
Der Film von Misselwitz, der im Oktober 1992 nicht lange nach den rassistischen Anschlägen auf das Ausländerwohnheim in Rostock-Lichtenhagen seine Uraufführung erlebte, liefert keine Erklärung für das aggressive Vorgehen der Dorfclique.
Er macht in erster Linie deutlich, was für ein Riesenschock die Zerstörung aller Zukunftspläne für junge Menschen ist, die aus dem Film „Winter adé“ stammen könnten. Der Filmtitel „Herzsprung“ steht auch hierfür. Beide Figuren Soljanka und Johannas Ehemann Jan, der nicht nur sich selbst, sondern auch sämtliche Kühe erschießt, werden von Ben Becker verkörpert und verschmelzen so in ihrer Perspektivlosigkeit.
Der Film deutet an, dass ihre Generation in der Schule doppelt belogen wurde: Erst über den Charakter der stalinistischen DDR, die als siegreicher Sozialismus dargestellt wurde, später über die unbegrenzten Möglichkeiten, die der Kapitalismus angeblich für sie bereithält. Die fremdenfeindlichen Anschläge im Osten, die zur gleichen Zeit auch in Westdeutschland zunahmen, hängen mit dieser Lüge und Verwirrung zusammen.
Nach Kräften schürte die Kohl-Regierung die Parole „Deutschland, einig Vaterland!“, unterstützt vom letzten DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow und dem stalinistischen SED-Regime. Während Jan und Soljanka vielleicht naiv den Versprechungen ehrlicher Wirtschaftshilfe für die „Brüder und Schwestern“ im Osten geglaubt hatten, diente die kapitalistische Wiedervereinigung in Wirklichkeit der Rückkehr deutscher Großmachtpolitik, die sich inzwischen so erschreckend mit Kriegstreiberei und faschistischen Gefahren manifestiert.
Im Gegensatz zu theatralisch-selbstmitleidigen Filmen über den Zusammenbruch der DDR, wie beispielsweise „Letztes aus der „DaDaeR“ (Jörg Foth, 1990), ist „Herzsprung“ ein eher nüchternes Stimmungsbild, aus dem vor allem Ratlosigkeit spricht. Am nächsten Morgen brennt der Imbiss immer noch. Massen von Autos fahren an ihm vorüber.